Kraftwerk Sao Paulo
Machen schon länger Atempause, die Geschichte ist gemacht: Kraftwerk live im Mai 2023 in São Paulo.
IMAGO/TheNews2

Im Jahr 2024 wird es auch schon wieder 50 Jahre her sein, dass die deutsche Band Kraftwerk auf die Autobahn rauf und Richtung Zukunft und Datenhighway fuhr. "Es wird immer weitergehen / Musik als Träger von Ideen", singt schließlich zwölf Jahre später, also 1986, Ralf Hütter im Song Music Non Stop. Das Lied des Alleinherrschers der Düsseldorfer Zukunftsmusikverwahrungsanstalt Kraftwerk ist auf dem Album Electric Café enthalten.

Manchmal muss das Zukünftige im Nachhinein ja auch retrofuturistisch begradigt werden, damit die Leute von heute nicht ständig an das Gestern und Dinge wie Bargeld, Verbrennungsmotoren und das generische Maskulinum denken: Electric Café wurde im Zuge einer modernistischen Revision 2009 in Techno Pop umbenannt.

Kraftwerkification

Kraftwerk haben es bezüglich Zukunft natürlich schwer. Das letzte Album mit neuer Musik ist 2003 mit Tour de France vor 20 Jahren erschienen. Spätestens seit damals erzählt Ralf Hütter mit drei Angestellten während zeitloser 3D-Brillen-Konzerte vom Morgen im Früher. Die deutsche Formation ist wesentlicher Teil eines immerwährenden Futurismus. Der wirkt heute ungefähr so zeitlos wie ein Taschentelefon oder ein tragbarer Klappcomputer mit einer Sounddatei voller Franz Schubert, eingespielt mit japanischer Alleinunterhalterorgel.

Im neuen Buch Futuromania des britischen Autors Simon Reynolds nehmen Kraftwerk natürlich einen zentralen Platz ein. Reynolds landete 2010 mit dem Band Retromania – Pop Culture’s Addiction to Its Own Past einen absoluten Bestseller der Musikliteratur. Immerhin geht es für die Generation Pop, also Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden und die Trennung der Beatles, so wie Simon Reynolds als Siebenjähriger, noch live im Fernsehen erlebt haben, immer auch darum, dass die Vergangenheit in der populären Musik trotz stetigen Vorwärtsstrebens niemals aufhören will.

Leonardo Galasso

Die seit 30 Jahren gesammelten Aufsätze von Reynolds, die nun unter Futuromania – Elektronische Träume von der Zukunft auch auf Deutsch vorliegen, versuchen anhand der Geschichte von Pop als immer frisch upgedateter Entwicklungsroman hinsichtlich technischer Errungenschaften allerdings auch einen gewissen Fortschritt in der Musik zu behaupten. Ob dabei die etwa von Kraftwerk noch verbreitete und schon etwas kränkelnde Utopie einer symbiotischen Zukunft von Mensch und Maschine überwiegt? Alles könnte ja auch in den dystopischen und hyperventilierenden Breakbeats des Drum 'n' Bass oder im zäh tektonische Platten verschiebenden Dröhnland der konzeptuellen Dark-Ambient- und Laptop-Apokalypse untergehen. Eine Geschmacksfrage.

Radikale Sounds

Speziell im Bereich der schwarzen Clubmusiken wurde laut Reynolds dank Innovationen wie Sampling oder DJ-Kunst immer schon Tradition nach vorn gedacht, also aufbauend auf möglicherweise überkommenen Gegebenheiten Science-Fiction betrieben. Reynolds interessiert sich als ausgewiesener Verächter klassischer Gitarren-Bass-Schlagzeug- und Indiespießer-Musik seit jeher mehr für futuristische elektronische Sounds als für reflexive Nabelschautexte. Er spannt den historischen Bogen von Kraftwerk, Tangerine Dream, dem Synthiepop von Depeche Mode herauf über Hip-Hop, Dub, Detroit Techno und Chicago House zu Rave, dem Intelligent Techno von Aphex Twin und grimmigem Panzerschokolade-Gabber bis zu R 'n' B und Autotune.

Aphex Twin

Radikale Sounds, so Reynolds, würden immer auch ein fortschrittlich linkes Denken bedeuten. Wobei "fortschrittlich" und "links" heute etwas ziemlich nostalgisch Kreiskyhaftes anhaftet. Die Zukunft jedenfalls beginnt immer schon jetzt. (Christian Schachinger, 9.8.2023)