Wolf Wondratschek
Schriftsteller Wolf Wondratschek.
IMAGO/SKATA

Mail an Wolf Wondratschek: "Sind Sie in Wien, wären Sie gewillt, aus gegebenem Anlass mit mir zu sprechen? In den kommenden Tagen wäre großartig, Samstag oder Sonntag oder Montag." Der gegebene Anlass: Wondratscheks 80. Geburtstag am 14. August 2023 (geb. 1943 in Rudolstadt). Seine Antwort: Nein, in Wien ist er nicht, aber: "Um mit mir zu sein, gehen Sie zur Abwechslung doch einfach in eine Buchhandlung und schauen in das schmale Bändchen Einige Gedichte."

Gut so, wird gemacht. Zum Reden wird sich nachher noch Zeit finden. Lassen wir inzwischen das Werk sprechen, für einen Schriftsteller ohnehin die adäquateste Äußerungsform. Aber erst eine kurze Erinnerung an das, was bisher geschah, was dem neuen Buch in den vergangenen Jahren voranging. Von einer Werkausgabe der Gedichte (2018) abgesehen waren das in erster Linie Romane: Dante, Homer und die Köchin (2021), Selbstbildnis mit russischem Klavier (2018) und der wunderbare, jetzt von Ullstein neu aufgelegte Mittwoch (2013), in dem der "feinste Erzähler deutscher Sprache" (so nannte ihn damals die SZ) in federleichter Manier einen Tag hindurch unterschiedliche Lebensgeschichten nachverfolgt.

Sinn für das Paradoxe

Dann gab es das Selbstbildnis mit Ratte (2014), ein Werk, für das das Allerwelts-Werbewort "exklusiv" ausnahmsweise zutrifft: Es existiert nur in einer einzigen Ausgabe und wurde von dem Investor und Wondratschek-Fan Helmut Meier erworben.

Einige Gedichte, Poesie also. Mit seinen Gedichtbänden, die sich verkauften wie geschnitten Brot und Auflagen von mehreren Hunderttausend Exemplaren erreichten, hat sich Wondratschek in den 1970ern als einer der hellsten Sterne am deutschen Literaturfirmament etabliert. Er brachte das Kunststück zustande, sich trotz seines Erfolges dem Literaturbetrieb zu verweigern und seinen eigenen Weg zu gehen. Viel Zeit ist seither verflossen, aber in den neuen, in freier Versform geschriebenen Gedichten ist alles noch da: Wondratscheks Sound, sein sprachlicher Punch, die Sensibilität, die Distanz zu jedem Klischee, der Sinn für das Paradoxe und für das, was wirklich zählt im Leben. Und natürlich die Rauchschwaden, die seit Jahrzehnten verlässlich durch sein Werk ziehen: Einer im Traum / gibt dir Feuer / für eine Zigarette.

Buch
Wolf Wondratschek, "Einige Gedichte".€ 18,– / 76 Seiten. Ullstein-Verlag, Berlin 2023
Verlag

Die Kunst, müde zu sein

Wir finden ein Gedicht über die Kunst, müde zu sein. Ein anderes darüber, was sich eine Zimmerdecke beim Anblick dessen denkt, der seit ewigen Zeiten zu ihr hochschaut. Die Indische Nacht, ein umwerfendes Liebesgedicht in neun Zeilen. Gedichte an seinen Sohn Raoulito. Ein Gedicht über Pasolini, ein anderes über, ja: Oppenheimer. Zu allen dieser Einigen Gedichte ist auch etwas hinzugekommen: ein geschärftes Bewusstsein für menschliche Endlichkeit und Zerbrechlichkeit. Das hat mit dem Alter zu tun und einem radiologischen Befund mit beunruhigenden Auskünften: Unter anderem steht da: Sklerose der Aorta thoracica. / Ob es hilft, nachts das Licht brennen zu lassen? Und mit einem Todesfall in der Familie: Er hatte ein schönes Leben. Ein schönes Leben, das einmal war. Wie er jetzt selbst einer ist, der einmal war. Wie auch ich einmal einer sein werde, der einmal war. Herzstück des Bandes ist das Gedicht "Sprung vom Dreimeterbrett"über seinen verstorbenen Bruder Klaus.

Herzstück in doppeltem Sinne: Es ist mit seinen zwölf Seiten das längste des Bändchens, und es ist ein Zeugnis einer emotionalen Erschütterung, das gerade deswegen so bewegend wirkt, weil Wondratschek nichts verklärt und die Kluft nicht verschweigt, die zwischen ihm und seinem "ordentlich" verheirateten Bruder lag: Hatte je eine andere Frau, die ihn anschaute, Interesse gezeigt an dem, was so in so einem Kopf vorgeht? // Keine Liebesbriefe. Keine Mädchen, die weinten. Keine Frau, über der er nicht, wenn es regnete, seinen Schirm hielt. Ob nicht alles, wenn er schlief und träumte, noch langweiliger war? Dann wieder konterkariert mit einem Mal eine strahlende Kindheitserinnerung die Schwierigkeit, den Bruder zu verstehen: Mit drei oder vier sprang er, noch bevor er schwimmen konnte, im Schwimmbad vom Dreimeterbrett. Ich habe nie mehr einen glücklicheren Menschen gesehen.

Der Schriftsteller sinniert an der Theke eines Wirtshauses über Leben, Tod und Verlust, der Wirt mengt sich mit Ratschlägen ein ("Reden Sie nicht. Wer redet, hört die Toten nicht"). Schicht um Schicht häuft Wondratschek Komponenten des Trauergeschehens – Erinnerungen, Gedanken, Gefühle, die einander mal ergänzen, mal widersprechen – zu einem komplexen Gefüge, das seine ganze Meisterschaft zeigt. Und auch die Dichter treten auf, selbst wenn sie nur bescheidenen Trost spenden können. Hilft es, was die Dichter wissen? Der Tod riecht nach Pfeffer und Majoran. Er ist der Schatten, den der Stier wirft, der im Sand schwimmende Fisch. Nichts ist verloren gegen den Spieler, der immer gewinnt. (Christoph Winder, 11.8.2023)