Kathrin Röggla
Röggla: Literatur als gesellschaftspolitische Nebenklage.
Carsten Koall / dpa / picturedes

Am 11. Juli 2018 wurde in München das Urteil im sogenannten NSU-Prozess verkündet. Über Beate Zschäpe, die Lebensgefährtin der beiden rechtsradikalen Terroristen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos (beide starben 2011, als der Nationalsozialistische Untergrund, NSU, aufflog), wurde lebenslange Haft verhängt.

Für vier weitere Helfer gab es kürzere Haftstrafen, die Revisionen sind inzwischen abgearbeitet. Das Urteil wurde vielfach als enttäuschend empfunden, für viele Nebenkläger, also vor allem Angehörige der Opfer, fehlte es dem Richter Manfred Götzl an Empathie.

Gravierende Lücken

Auf einer grundsätzlicheren Ebene wird immer wieder kritisiert, das Verfahren habe wesentliche Aspekte gar nicht zugelassen, in erster Linie die Verstrickung des deutschen Sicherheitsapparates. In einem Fall war sogar ein V-Mann zur Tatzeit in einem Internetcafé, seine Darstellung weist nach wie vor gravierende Lücken auf.

Für die österreichische, in Deutschland lebende Schriftstellerin Kathrin Röggla war der NSU-Prozess offensichtlich auch mehr als nur ein Strafprozess von politischem Gewicht.

Sie hat nun einen Roman geschrieben, in dem sie sich noch einmal grundsätzlich darüber Gedanken macht. Sie hat sich dabei als Erzählerin unter das Prozesspublikum gemischt, das von der "Empore" auf den Saal eine Etage tiefer schaut.

Buch
Kathrin Röggla, "Laufendes Verfahren". Roman. € 24,– / 208 Seiten. S.-Fischer-Verlag, Berlin 2023
S. Fischer

Literarischer Spiegel

Viele der Besucher und Besucherinnen kommen regelmäßig, bald konturieren sich Figuren heraus, denen in Laufendes Verfahren immer wieder das Wort erteilt wird: eine Oma gegen Rechts, eine Frau namens Yildiz, die immer wieder ein neues Beiwort bekommt (Antifayildiz, Punktumyildiz, Aktenyildiz), ein Bloggerklaus, ein Gerichtsopa, der sich besonders gut mit den Regeln auskennt.

Aus ihren Äußerungen protokolliert die Erzählerin einen Text, in dem das Prozessgeschehen wie in einem stark gebrochenen literarischen Spiegel erscheint, aus dem aber doch das Wesentliche ersichtlich ist. Röggla selbst ist als Figur nicht anwesend, sie geht vollständig in ihrer Sprache auf, selbst als sie einmal kurz Ich sagt (bezeichnenderweise in Klammern), wird dabei keine Position von außerhalb erkennbar, sondern eine weitere Facette dieses vielstimmigen Antwortverfahrens auf der Empore.

Was ist eine Übertötung?

Unten tagt ein Spruchkörper, unten ringen Zeugen um Ähnlichkeiten zwischen Verdächtigen und ihren unklaren Erinnerungen. Oben ringen die Zuhörerinnen mit den juristischen und polizeilichen Begriffen (was ist zum Beispiel eine Übertötung? was eine Sperrerklärung?). Implizit geht es die ganze Zeit um die Frage, ob und in welchem Maß ein Gerichtsverfahren, als ein formalisiertes Geschehen mit allzu menschlichen Beteiligten, der Herausforderung gerecht werden kann, die der rechtsradikale Terrorismus für die Demokratie bedeutet.

Persönliche Nebenklagen

Rögglas Roman lässt sich am ehesten als ein Ansatz zu einer Trauerarbeit lesen, den Begriff der Trauer bringt sie auch selbst prominent vor, und sie vermerkt ausdrücklich: Im ganzen Gericht gab es keine Stelle der Trauer. Das ist als Klage formuliert, der Roman kann damit als eine Nebenklage gelesen werden, als eine weitere und staatsbürgerlich grundsätzliche neben den persönlichen Nebenklagen der Tatbetroffenen. Die Kritik wird schließlich noch grundsätzlicher: Dem Verfahren habe es an Sprache gefehlt, es war "ein Gemälde aus Beton".

Röggla macht mit ihrem Roman ein Angebot, diese Sprache zumindest in Ansätzen nachzuliefern. Allerdings stößt sie dabei ihrerseits an Grenzen der Verständigung. Denn Laufendes Verfahren ist im Grunde ein experimenteller Roman, eine Suada, in der vieles sich sehr indirekt erschließt, vieles vielleicht sogar gar nicht. Röggla schreibt weite Passagen in der Zeitform der Vorzukunft ("man wird gegen Knoblauch allergisch gewesen sein"), dafür gibt es auch Andeutungen von Begründungen, die allerdings nicht wirklich überzeugen. Sie erweckt eher den Eindruck, die komplizierte Rhetorik ("Jahrelang wurden sie verdächtigt, Türkenmafia hieß es, eine BAO Bosporus wird ins Leben gerufen worden sein") solle einen Literatureffekt erzeugen, mit dem sich Laufendes Verfahren von den klassisch berichtenden Gerichtsreportagen abhebt.

Die gibt es ja, sogar gute, Röggla nennt sie auch als Quellen, sie will aber etwas anderes als das "gute Erzählen" der Journalistinnen. In ihrem Essay Bauernkriegspanorama hat Röggla zuletzt virtuos gezeigt, wie man in literarischer Sprache argumentieren kann, ohne alles talkshowgerecht auszuformulieren. In Laufendes Verfahren hingegen erweckt sie mit ihrer forcierten Sprache den Eindruck einer gewissen Ratlosigkeit vor der Herausforderung, die sie sich gestellt hat. (Bert Rebhandl, 11.8.2023)