Der 76. Festivaldurchgang in Locarno: Produzent Sina Ataeian Dena nimmt in Vertretung des Regisseurs den Hauptpreis für den Gewinnerfilm "Mantagheye Bohrani - Critical Zone" entgegen.
Marco Abram

Verbrechen zahlt sich aus. Zumindest beim heurigen Filmfestival Locarno. Den Gewinnerfilm des Goldenen Leoparden Mantagheye Bohrani - Critical Zone drehte Ali Ahmadzadeh nämlich illegal. Doch da es eine iranische Produktion ist, wird der Ungehorsam zum politischen Protest gegen das Regime. Die Kreativität beweist sich hier im Widerstand für die Kunstfreiheit, wie so oft in der Kinonation Iran. Und wie so oft reagiert das Regime mit Druck und einem Ausreiseverbot. Der 1986 geborene Filmemacher konnte seinen Film nicht persönlich in Locarno vorstellen. Den Goldenen Leoparden nahm sein im Exil lebender Produzent Sina Ataeian Dena entgegen. Er und der Regisseur hatten im Vorfeld Drohungen des iranischen Sicherheitsapparats erhalten. Das Locarno Festival rief das iranische Regime zur sofortigen Freilassung Ahmadzadehs auf.

Doch Critical Zone ist durchaus mehr als ein bloßes Statement des Ungehorsams unter erschwerten Produktionsbedingungen. Teils heimlich im Guerilla-Stil auf den Straßen von Teheran gedreht, nimmt er das für den iranische Film so typische Motiv der Autofahrt auf und findet eindrückliche atmosphärische Bilder. Doch anders als bei Regieveteran Jafar Panahi ist die Hauptfigur Amir hier mehr Drogenkurier als Taxifahrer.

Mit einem Großeinkauf Marihuana, Kokain und Opium kommt er zu seinem Hund Mr. Fred nach Hause. Nach dem Eintüten der Ware und dem Zubereiten von Schoko-Hasch-Kuchen folgt ihm der Film, wie er die Drogen im nächtlichen Teheran unters Volk bringt. Als "verrückter Prophet" verteilt er seine Gaben und folgt der göttlichen Stimme aus dem Navigationssystem. Die Kuchen gehen an die Bewohner eines Altenheims, mit denen er persische Gedichte rezitiert. Und am Ende heilt er gar mit Haschisch einen Kranken. Angesichts der Todesstrafe für Drogendelikte im Iran wird auch diese surrealistisch-symbolische Verbrechergeschichte wiederum politisch.

Neben dem Goldenen Leoparden vergab die Jury weitere Preise an den ukrainischen Beitrag Stepne von Maryna Vroda (beste Regie) und Radu Judes Nu astepta prea mult de la sfârsitul lumii - Do Not Expect Too Much From the End of the World (Spezialpreis der Jury), sowie eine Special Mention für Nuit obscure - Au revoir ici, n'importe où von Sylvain George. Die beiden geschlechtsneutralen Schauspielpreise gingen an Renée Soutendijk in Sweet Dreams sowie an Dimitra Vlagopoulou in Animal. Letzterer ist eine griechisch-österreichische Koproduktion mit Sänger Voodoo Jürgens in einer Nebenrolle. Vlagopoulou spielt darin die Animateurin Kalia mit umwerfender Energie und Verzweiflung. Der Film wird 2024 ins Kino kommen.

Stete Profitorientierung

Abseits des Hauptwettbewerbs gab es noch einen Gewinner aus Österreich. Der Videokünstler Lukas Marxt erhielt von der Jury des Pardo Verde Ricola eine Special Mention für seinen 14-minütigen Film Valley Pride über Landwirtschaft in der amerikanischen Sonora-Wüste. Er erzählt darin von der "Selbstauslöschung des Menschen im Dienst steter Profitorientierung".

Der vom Schweizer Zuckerlhersteller gesponsorte grüne Leopard wird 2023 zum zweiten Mal an einen Film mit grüner Produktion und/oder umweltbewussten Thema verliehen. Er geht heuer an Čuvari formule - Guardians of the Formula von Dragan Bjelogrlić, der von der Verantwortung der Wissenschaft vor dem Hintergrund des Kalten Krieges erzählt. Das Festival selbst ist schon seit 2010 ein klimaneutrales Event. Konsequenterweise bekam auch ein weiterer ökologischer Film eine große Bühne.

Naturfilmer und Oscargewinner Luc Jacquet stellte seine Dokumentation Voyage au pôle Sud - Antarctica Calling auf der Piazza Grande mit seinen 7000 Zuschauern vor. Dabei wurde die Einführung von zwei Klimaaktivisten der Schweizer Gruppe Renovate unterbrochen. Nach einem kurzen Interventionsversuch der Sicherheitsleute gab ihnen Festivaldirektor Giona A. Nazzaro aber persönlich das Mikrofon für ihren Weckruf.

Hoffnung ist politisch

Locarno erweist sich damit heuer als durchaus politisch, auf der Leinwand und davor. Einen Tag später lieferte der 87-jährige Regisseur Ken Loach bei seinem Auftritt auf der Piazza Grande das passende Motto für ein solches Kino: "Hope is political. Let’s hope!" (Marian Wilhelm, 13.8.2023)