Menschen auf dem Zebrastreifen
Normal oder nicht mehr ganz normal? Beinahe ein Fünftel der Wahlberechtigten nimmt für sich in Anspruch, von der Normalität abzuweichen.
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Linz – Anfang Juli hat die niederösterreichische Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner mit einem Gastkommentar im STANDARD die Debatte darüber angestoßen, was in Österreich als "normal" gilt. Ihre Partei, die ÖVP, bemühe sich darum, für die "normal denkende Mitte" der Gesellschaft Politik zu machen. Und dieser Mitte fühlen sich 69 Prozent der Wahlberechtigten zugehörig, wie eine in der Vorwoche abgeschlossene Umfrage des Linzer Market-Instituts für den STANDARD belegt.

Market fragte: "In den letzten Wochen ist immer wieder diskutiert worden, was die Menschen in Österreich als 'normal' empfinden und was nicht. Wenn Sie zunächst an sich selbst denken: Würden Sie sich selbst als einen für österreichische Verhältnisse 'normalen' Menschen bezeichnen oder glauben Sie, dass Sie selbst nicht so ganz zu den für österreichische Verhältnisse 'normalen' Menschen gehören?" Darauf deklarierten sich die erwähnten 69 Prozent als "normal". 19 Prozent sagten, dass sie selbst nach österreichischen Maßstäben eher nicht zu den "normalen" Menschen gehören – besonders junge Befragte, Selbstständige und Grüne nehmen überdurchschnittlich oft für sich in Anspruch, außerhalb der Norm zu leben.

Normalität der ÖVP und FPÖ

Umgekehrt ist Normalität etwas, was die Wählerschaften der ÖVP und der FPÖ besonders stark betonen. Market-Wahlforscher David Pfarrhofer verweist darauf, dass sich von den parteipolitisch nicht deklarierten Befragten etwas überdurchschnittlich viele eben nicht als normal bezeichnen: "Von denen, die derzeit nicht recht wissen, wen sie wählen sollten – das sind möglicherweise Nichtwähler, die man noch gewinnen könnte –, sagen 64 Prozent, dass sie sich als normal empfinden, und 23 Prozent, dass sie das eher nicht sind. In diesem Segment wird man wahrscheinlich nicht besonders viel gewinnen, wenn man seine Politik als eine für normale Menschen vermarktet. Das Thema verfängt eher bei denen, die man ohnehin im eigenen Lager hat." Dabei ist auch etwa jeder siebente Anhänger von ÖVP und FPÖ nach eigener Einschätzung nicht den normalen Österreichern zuzurechnen.

Wer sich selbst als normal sieht

DER STANDARD ließ anschließend in 36 Kategorien abfragen, ob dies oder jenes als "ohnehin normal" oder "eben nicht mehr normal" empfunden werden. Als weitestgehend normal werden Alleinerzieherinnen (83 Prozent) und Alleinerzieher (69 Prozent) empfunden. Pfarrhofer: "Allerdings gibt es auch da neun beziehungsweise 16 Prozent, die das nicht als normal ansehen. Und wenn zwei Frauen oder zwei Männer gemeinsam Kinder aufziehen, dann geht die Zustimmung deutlich auf 56 beziehungsweise 52 Prozent zurück." 37 Prozent sehen es als nicht mehr normal an, wenn zwei Männer Kinder aufziehen – unter Freiheitlichen steigt die Ablehnung auf 60 Prozent. Das Verständnis für gleichgeschlechtliche Paare, die gemeinsam Kinder großziehen, ist bei jungen und weiblichen Befragten sowie in den Grünen- und SPÖ-Wählerschaften besonders hoch.

Verständnis für jene, die blaumachen

Wofür es ganz wenig Verständnis gibt, sind "Menschen, die sich aus Protest gegen die Klimapolitik irgendwo festkleben": Diese stoßen mit 72 Prozent auf ebenso viel Ablehnung wie Menschen, die häufig blaumachen und sich ungerechtfertigt krankmelden. Blaumachen wird vor allem von ÖVP-, Neos- und FPÖ-Wählern, von älteren Befragten als nicht normal abgelehnt. Ähnlich ist das Muster, wenn es um Menschen geht, die sich nicht um Arbeit bemühen – das findet breite Ablehnung, stößt aber andererseits bei jedem Fünften auf Verständnis.

Ganz deutliche Ablehnung gibt es für politischen Extremismus: 69 Prozent lehnen Menschen, die extreme politische Ansichten haben, als nicht normal ab. Und diese Ablehnung zieht sich mit ganz geringen Abweichungen durch sämtliche Parteiwählerschaften, unter den die FPÖ Präferierenden zeigt allerdings etwa jeder Vierte Verständnis für politischen Extremismus. Das geringste Verständnis für Extremismus gibt es in der Wählerschaft der Regierungsparteien ÖVP und Grüne.

Überwiegend als außerhalb der Norm werden Menschen empfunden, die sich als Marxisten oder als Nationalisten empfinden oder das politische System Österreichs ablehnen. Auch hier ist es die freiheitliche Wählerschaft, die überdurchschnittlich Verständnis für die Ablehnung des politischen Systems äußert; dies ist einer der wenigen Punkte, wo es eine ähnliche Haltung wie bei den KPÖ-Wählern gibt. Was bei näherer Betrachtung der Daten auch auffällt: Bei etwa einem Drittel der Befragten unter 50 gibt es Verständnis für Menschen, die das österreichische politische System ablehnen.

Was in Österreich als normal empfunden wird

In hohem Maß als normal gelten Menschen mit Behinderung, Menschen, die nicht an Gott glauben, oder auch Menschen, die in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben. Pfarrhofer: "Bei einigen Wählern von ÖVP und Grünen gibt es da Vorbehalte, aber mehrheitlich stehen auch die Wählerschaften dieser Parteien dazu, dass es heutzutage normal ist, wenn Personen gleichen Geschlechts zusammenleben. Auch, dass sich Menschen die Haare bunt färben oder vegan ernähren, wird recht breit akzeptiert. Anders ist es mit Personen, die sich als nichtbinär definieren, sie gelten für jeden Zweiten als nicht normal. Und da sieht man schön den gesellschaftlichen Wandel: Junge Befragte sehen das viel eher als normal an als Menschen über 50."

Rasen ist für viele die Norm

Etwa der Hälfte der Befragten hat wenig Verständnis für Impfverweigerer – das ist etwa das Niveau, auf dem Raserei mit dem Auto abgelehnt wird. Vier von zehn Befragten sagen allerdings, dass sie es normal fänden, wenn jemand häufig zu schnell unterwegs ist. Hier ist das Verständnis bei jungen Befragten besonders hoch, bei Wählern von Grünen, Freiheitlichen und ÖVP besonders gering.

Und wie ist es mit dem Gendern, das Mikl-Leitner zum Anlass genommen hat, auf die Normalität zu pochen? Jeder Zweite hält es für nicht normal, beim Schreiben richtig zu gendern, für 35 Prozent (und für die Hälfte der Rot- und Grün-Wählerschaft) ist es bereits normal. Noch etwas ausgeprägter ist die Ablehnung des Genderns beim Sprechen: Das wird vor allem von Menschen über 30 mit deutlicher Mehrheit abgelehnt, eine deutliche Mehrheit dafür gibt es nur unter den Anhängerinnen und Anhängern der Grünen. Jene, die sich selbst als eher nicht normal bezeichnen, finden Gendern in hohem Maß normal. Das Geschlecht der Befragten hat auf die Haltung zum Gendern statistisch gesehen übrigens keine Auswirkung. (Conrad Seidl, 16.8.2023)