Das Gehirn gilt das wichtigste Sexualorgan des Menschen. Laut einer schon wieder etwas älteren US-Studie aus dem Jahr 2011 denken Männer im Schnitt 34-mal pro Tag an Sex und Frauen 19-mal. Die Schwankungsbreite ist allerdings relativ groß und reichte bei dieser Untersuchung an nur knapp 300 Personen von 1- bis 388-mal bei den Männern und 1- bis 140-mal bei Frauen. Damit dachten beide Geschlechter öfter an Sex als an Essen oder Schlafen, andere wichtige Grundbedürfnisse des Menschen.

Wo und wie aber entstehen diese Gedanken? Gibt es so etwas wie ein Lustzentrum im Gehirn? Bis vor wenigen Jahren noch waren diese Fragen ziemlich unbeantwortbar, denn das Gehirn galt als ein unüberschaubares neuronales Gewirr. Doch im letzten Jahrzehnt machten die Neurowissenschaften enorme Fortschritte – unter anderem mithilfe der neuen Methode der Optogenetik. Dadurch könnten neuronale Schaltkreise, die für bestimmte Aktivitäten zuständig sind, punktgenau aktiviert und damit auch in ihrer Funktion bestimmt werden.

Exakte Verortung der Lust

Nun sind US-Forschende auf diese Weise dem Sexualtrieb im Gehirn auf die Spur gekommen, zumindest bei männlichen Mäusen. Bis vor kurzem wusste man nur, wo sich der männliche Sexualtrieb der Nager grob befindet, nämlich im präoptischen Hypothalamus. Der Neurobiologe Nirao Shah (Stanford University) und seine Kollegen haben nun aber jene Schaltkreise des Gehirns entdeckt, die bei männlichen Mäusen aktiviert werden, wenn sie die Anwesenheit eines Weibchens wahrnehmen. Das führt dazu, dass ihr sexuelles Verlangen geweckt, die Paarung eingeleitet und die daraus resultierende Befriedigung erzeugt wird.

So unsexy sieht eine schematische Darstellung  der für Sex zuständigen neuronalen Schaltkreis im Gehirn männlicher Mäuse aus.
Twitter / X

Mit ihrer Studie, die im renommierten Fachblatt "Cell" publiziert wurde, haben die Forschenden aber nicht nur die tatsächliche neuronale Verdrahtung des sexuellen Verlangens aufgespürt. Es gelang ihnen auch mittels optogenetischer Methoden, den Sexualtrieb der männlichen Mäuse nach Belieben zu manipulieren: Legten sie den neuronalen Schalter um, paarten sich die Männchen einfach nicht mehr, selbst wenn der auslösende Stimulus eines Weibchens gegeben war.

Hausmäuse Sex
Männliche und weibliche Hausmaus unmittelbar vor der Kopulation.
Bettina Wernisch / Vetmeduni Vienna

Aktivierten die Forscher hingegen diese Zellen, begannen sie sich wieder zu paaren, sogar nach der Ejakulation. Dieses Detail sei besonders wichtig, erklärt Hauptautor Shah in der spanischen Tageszeitung "El País". Denn bei den meisten männlichen Säugetieren – also auch den Männern – gibt es nach der Ejakulation ein Zeitfenster, in dem sie kein sexuelles Verlangen haben und das bei Mäusen etwa fünf Tage dauert. Doch wenn dieser neuronale Schaltkreis stimuliert wird, verschwindet es praktisch und dauert diese sogenannte Refraktärzeit nur eine Sekunde – macht eine Verkürzung um den Faktor 400.000. Das zeigt laut Shah, wie sehr diese Neuronen den Sexualtrieb steuern.

Permanente Stimulation

Bei den Experimenten wurde den männlichen Mäusen auch die Möglichkeit gegeben, den neuronalen Schaltkreis für Sex nach Belieben einzuschalten: Wenn sie sich in einen bestimmten Bereich des Käfigs begaben, wurde er automatisch aktiviert. Als die Mäuse den Mechanismus entdeckten, kehrten sie immer wieder an diese Stelle zurück – laut Shah bis zu 200-mal in ein paar Minuten.

Optogenetic activation of preoptic hypothalamus neurons elicits mating.
IFLScience

Einer der Vorteile dieses überaus gezielten Eingriffs in das neuronale Netzwerk der Lust besteht darin, dass seine Aktivierung und Deaktivierung ohne Nebenwirkungen vonstattenging. Denn in den meisten früheren Experimenten hatten Beeinflussungen des männlichen Sexualverhaltens bei Tieren auch deren Aggression verändert. Bei der punktgenauen Aktvierung der neu identifizierten Gehirnzellen passierte das nicht.

Entsprechung im Menschenhirn

Die Gretchenfrage: Lassen sich diese Erkenntnisse auch auf den Menschen umlegen? Shah geht davon aus. Denn jener Teil des Mäusegehirns, in dem sich dieses neuronale Netzwerk der Libido befindet, habe eine anatomische Entsprechung in unserem Gehirn. Es sei also sehr wahrscheinlich, dass es in dieser Region des menschlichen Gehirns eine ähnliche Gruppe von Zellen gibt, die das männliche Sexualverhalten steuert. Das wiederum könnte den Weg für die Entwicklung von Medikamenten ebnen, die als Lustschalter beim Mann fungieren.

Mit Viagra haben solche potenziellen Medikamente im Übrigen wenig zu tun. Denn die blaue Pille wirkt "nur" auf die Blutgefäße im Penis und verursacht so eine Erektion. Die Libido ist davon wenig beeinflusst. Ein mögliches neuronales Medikament würde nicht auf die physischen Mechanismen der Erektion, sondern auf die neuronalen Schaltkreise einwirken. Es wäre quasi Viagra für das Hirn – eine Pille, die überaktiven Sexualtrieb dämpfen oder diesen umgekehrt aus dem Tiefschlaf holen kann.

Und wie ist das mit der weiblichen Sexualität? Shah räumt ein, dass die neue Studie nur ein erster Schritt in einer umfassenderen Untersuchung des Sexualtriebs sei. Seine Forschungsgruppe arbeite daran, die entsprechenden Schaltkreise auch bei weiblichen Mäusen aufzuklären, was allerdings noch einige Jahre dauern könnte. Abgesehen von möglichen pharmakologischen Anwendungen könnten diese Erkenntnisse dazu beitragen, die angeborenen neuronalen Unterschiede zwischen Männern und Frauen besser zu verstehen. (Klaus Taschwer, 17.8.2023)