Literaturnobelpreis Poesie Exil Müller
Herta Müller, Autorin von Romanen wie "Atemschaukel" (2009), setzt sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Sprachmitteln gegen Nützlichkeitsfetischisten und Gleichmacher zur Wehr.
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Um ein Gefühl von Weltverlorenheit zu verspüren, kann es ausreichen, bei einem Berliner Fleischhauer einkaufen zu gehen. Einem, wie Herta Müller schreibt, "Fleischerladen". Frohgemut tritt Müller an die Theke und verlangt ein halbes Kilo gemahlenes Schweinefleisch. "Hackepeter", antwortet die Verkäuferin. Doch Müller möchte unter keinen Umständen "zerhackten Peter". Der Erwerb von einem halben Kilo Menschenfleisch scheint ihr, der Exilautorin aus Rumänien, anstößig zu sein.

Unbehaglich registriert Müller, wie die Verkäuferin beharrt. Wie deren Stimme rechthaberisch klingt. Der nächste Kunde tritt vor, er wünscht "zwei Pärchen Landjäger". Und während Müller, die Literaturnobelpreisträgerin von 2009, lauthals zu lachen beginnt, zischt der Mann: "Kauf doch besser Kartoffeln, mehr verstehst ja eh nicht."

Ihre wichtigste Lektion hat Müller gleich zu Anfang gelernt: 1987, als die von Ceauşescus Bütteln Verfolgte frisch in die BRD übersiedelt war. Ein Securitate-Mann hatte sie noch vor Reisebeginn im Zug angefasst: Nicht vergessen, wir kriegen euch überall! Später, in Nürnberg, fragte sie ein Beamter des Bundesnachrichtendienstes, ob sie, Müller, mit dem rumänischen Geheimdienst zu tun gehabt hätte? Sie antwortet: Er mit mir. Das ist ein Unterschied.

Genau von solchen Unterschieden erzählt der neue, schmale Essayband der Dichterin. Herta Müller feiert heute, Donnerstag, ihren 70. Geburtstag. Betitelt ist das Büchlein voller Gelegenheitstexte mit Eine Fliege kommt durch einen halben Wald. Ist es auch nur der halbe Wald, so bedeutet der Unterschied eine ganze Welt.

Wider die hohle Phrase

Herta Müller hat durch ihre Erfahrungen in der kommunistischen Diktatur Nützliches gelernt. Die "Wahllosigkeit, in der Dinge nebeneinander existieren", passt denjenigen in den Kram, die das Bild, das man sich von der Wirklichkeit macht, vorab festlegen. Fügt man sich in die "bewusste Anordnung der Misere", hat man sich dem Herrschaftsanspruch der Ideologie unterworfen. Müllers Feind war die Ceauşescu-Diktatur. Der materiellen Not in Rumänien entsprach die Leere der Phrasen, mit denen die Vertreter der Obrigkeit die "Wirklichkeit" wiedergaben.

Diktaturen rechnen mit der Anpassungskraft der Menschen. Die Erfahrung von Freiheit hingegen ist konkret. Als Müller in einer Maschinenbaufabrik als Übersetzerin arbeitete, weigerte sie sich, Kolleginnen für den Geheimdienst zu bespitzeln. Prompt streute die Securitate das Gerücht aus, Müller sei ein Spitzel. Sie wolle ein Mensch bleiben, äußerte sie im Verhör. Die Zahnbürste führte sie zu diesem Zeitpunkt mit sich in der Handtasche spazieren. Wer oder was ein Mensch sei, das würden sie bestimmen, so die Häscher. Herta Müller lernte ihre Lektion: Freiheit und Würde müssen als Spiegelschrift der Unterdrückung gelesen werden.

Gefängnis an den Sohlen

"Und wenn ich wieder gehen durfte, dachte ich: Zum Glück nehme ich das Gefängnis nur an den Schuhsohlen in eine leere Freiheit mit." Kehrte Müller abends heim in ihre Kommunalwohnung, fand sie Spuren mutwilliger Veränderung. Die Wohnungstür glänzte unbenützt. In ihrem Kühlschrank fand Müller Untertassen voll mit Zigarettenstummeln.

Über die Wirklichkeit verfügt, wer über die Anordnung ihrer Gegenstände befindet. Müller schrieb erste Texte. In ihnen setzte sie die Bauteile der Sprache schöpferisch zusammen – wie neu ins Lot gehoben: "Es schneite zerrissene Taschentücher, der Vogel an der Bushaltestelle ging auf den Händen ins Gras …" Die Freiheit, schreibt Müller, "ist immer eine konkrete Situation". Das allzu vertraut Erscheinende ist häufig genug das Entwendete: alles kalt Gestellte, kaputt Gemachte, zu Talmi Erstarrte. Jeglicher Sinn gehört neu gestiftet. Sie bewundert Verfolgte wie den chinesischen Kollegen Liao Yiwu: der, von seinen Unterdrückern auf den "Nullpunkt der Existenz" gebracht, durch besessenes Fixieren die Wahrheit vor jeder Entstellung durch Täterwillkür bewahrt.

Müller hat seit längerem keinen Roman mehr geschrieben. Aber sie, die Schwäbin aus dem Banat, unterstützt engagiert die Errichtung eines Berliner Exilmuseums: In ihm soll die Geschichte aller seit 1933 von den Nazis Vertriebenen dokumentiert werden. Damit sie, die ihrerseits Exilierte, nicht länger das Schicksal der "Heimatvertriebenen" mit demjenigen der von den Nazis Verjagten abgleichen muss. (Ronald Pohl, 17.8.2023)