türkische Gastarbeiterfamilie
Eine türkische Gastarbeiterfamilie vor dem Tor der Opel-Werke in Rüsselsheim. Wie sah wohl ihr Deutschlandmärchen aus?
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Etwas mehr als 60 Jahre ist es her, dass Deutschland und Österreich Abkommen mit der Türkei schlossen, um dringend benötigte Arbeitskräfte ins Land zu bringen. Viele von ihnen, die als Gastarbeiter angeworben wurden, blieben und wurden von Gästen zu Ansässigen. Im Zuge dieser ersten Migrationsbewegung kamen Dinçer Güçyeters Vater, später seine Mutter nach Deutschland. Der vielfach ausgezeichnete Autor und Verleger zeichnet ihre Geschichten aus der Arbeitswelt poetisch nach, schafft eine Literatur jenseits simpler Erfahrungsberichte, die von zerrissenen Existenzen berichtet und damit jenen Einheimischen nahebringt, die von ihnen bislang nichts wussten oder wissen wollten.

STANDARD: Vor dem Roman "Unser Deutschlandmärchen" veröffentlichten Sie den Gedichtband "Mein Prinz, ich bin das Ghetto" im Elif-Verlag, den Sie selbst gegründet haben.

Dinçer Güçyeter: Ja, er enthält einen Brief meines Vaters, den er nach seiner Ankunft in Deutschland an seine Eltern geschickt hat, den ich bei der Premiere las. Danach kam eine elegante ältere Dame zu mir und sagte: Herr Güçyeter, ich will Ihnen ganz offen sagen, dass ich mit Ihren Gedichten nichts anfangen konnte, aber diesen kurzen Brief fand ich entzückend, deshalb habe ich das Buch gekauft. Genau den habe ich aber nicht geschrieben, sondern nach Vaters Tod von meiner Mutter in einem vergilbten Umschlag bekommen. Ich habe mich acht Jahre lang nicht getraut, ihn zu öffnen. 2020 erst hatte ich die Kraft und den Mut, diese Zeilen zu lesen, und der Brief hat mir den Weg geöffnet, zuerst meinen Gedichtband und später den Roman Unser Deutschlandmärchen zu schreiben.

STANDARD: Auch der Roman bezieht seine Essenz aus der Verbindung zu Ihrer Familie. Sie bringen so Menschen mit literarischen Mitteln zum Sprechen, die sonst nicht gehört werden. Ist es ein kollektives Projekt?

Güçyeter: Ja, es ist es sehr privat, ich habe mich als Autor darin von meiner verletztlichsten Seite gezeigt, und das ganz bewusst. Die Familie, meine Mutter, meine Oma, meine Uroma – das sind Geschichten, die man mir ein Leben lang erzählt hat, mit denen ich groß geworden bin. Auch Gastarbeitermilieus haben ihre eigene Literatur, ihre eigenen Lieder. Manchmal sind die größten Geschichten in den kleinsten Fugen versteckt. Ich bin in einer Kleinstadt groß geworden, ich lebe da bis heute, an der holländischen Grenze. Man kann diesen kleinen Ort auch als Manhattan sehen, als Metropole, denn direkt an der Grenze war das größte Rotlichtmilieu in Nordrhein-Westfalen, weil die Männer die Bordelle nicht in der eigenen Stadt besuchen, sondern die an den Grenzen. Es kamen die ganzen Lkw-Fahrer, die Sinti und die Roma mit ihren Wohnwagen, die Zirkusmenschen, die kurdischen Flüchtlinge. Die Vielfalt und die Diversität in den 1980ern waren alltäglich, wir haben einfach zusammengelebt. Alles wurde geteilt, so habe ich das in meinem Elternhaus erlebt und auch in der Kneipe meines Vaters. Deshalb schätze ich mich sehr glücklich. Die Stimmen der Frauen waren mir wichtig und das Pragmatische, wie sie mit ihrem Leben umgehen. Ich wollte sie nicht als arme Frauen darstellen, die man bemitleiden muss. Es waren starke Frauen, sie haben für ihre Familie, für ihre Männer, für ihre Kinder, für die europäische Wirtschaft sehr viel geleistet. Die Begegnung mit ihnen hat mir das Leben einfacher gemacht. Zum Beispiel antworte ich auf die Frage, wie ich mit den Auszeichnungen umgehe: "Ich darf in dieser Umgebung gar kein Ego haben, spätestens nach zehn Minuten wird das Ego unter die Füße genommen." Dazu eine Anekdote: Als ich den Anruf erhielt, dass ich den Peter-Huchel-Preis bekomme, sagte ich: "Einen Moment mal, ich lege jetzt auf, und bitte melden Sie sich in fünf Minuten wieder." Ich habe mir einen Kaffee gemacht, und sie haben sich in fünf Minuten nochmal gemeldet. Meine Frau war mit den Kindern im Sportverein, ich musste aber mit jemanden reden, da habe ich die Mutter unten im Garten gesehen, ich bin sofort zu ihr gelaufen und habe gesagt: "Mutter, die haben mir einen Preis gegeben." "Für was?" "Ja für die Texte, die ich geschrieben habe." Da sagte sie: "Zwei Jahre Pandemie, alle haben den Verstand verloren und dir den Preis gegeben. Was hast du wieder angestellt?"

Als Dennis Scheck zu uns kommen wollte, hat mich der SWR angerufen und gefragt, ob er auch mit meiner Mutter sprechen kann. Ich sagte: "Ich muss erst fragen, sie ist nicht ganz einfach." Ich habe ihr gesagt: "Die werden jetzt vom Fernsehen kommen, und der Moderator möchte auch mit dir reden. Was hältst du davon?" Sie antwortete: "Schuhe müssen vor der Tür ausgezogen werden, und ich möchte keinen Blumenstrauß, den ich nach einer Woche wegschmeißen muss, ich brauche Apfelbäume für den Garten." So kam Dennis Scheck mit drei Apfelbäumen nach Nettetal.

STANDARD: Wer "Unser Deutschlandmärchen" liest, merkt, wie stark die Mutter ist, wie sie ihre Lebensweisheit jenseits konventioneller Bildungswege sammelt und zum Teil sehr poetisch formuliert. Das Buch ist formal sehr vielfältig. Erzählende Passagen, Lieder, Gebete, Dialoge, Poesie und so fort. Wie hat sich das entwickelt?

Güçyeter: Nach dem ersten Entwurf hatte das Buch so um die 600 Seiten. Wenn man so Mitte 40 ist, denkt man, das Leben wird immer kürzer und kürzer, das kann man den Leserinnen nicht antun, also habe ich zu streichen begonnen. Ich bin in die Türkei geflogen, in die Ägäis, auf die Berge, wo das Haus meiner Großeltern steht, hab mich dort eingesperrt, habe aus Deutschland Musik mitgenommen, zwei Koffer. Diese Formen, die haben mich mein ganzes Leben geprägt, ich wollte ja zuerst Liedtexte schreiben für die großen Sängerinnen, wie Umm Kulthum, Sezen Aksu, später kam Nina Hagen dazu, das war mein größter Traum. Erst als ich dann mit zwölf, 13, Else Lasker-Schüler, später Bachmann gelesen habe, wusste ich, was Lyrik ist. Dann fingen die Experimente an, zum Beispiel das Kapitel "Gebet" war über vier Seiten lang. Daraus habe ich vier Zeilen gemacht. Darin konnte ich alles vermitteln, was ich in den vier Seiten ausdrücken wollte. Nach zwei Monaten war ich mit der letzten Fassung von 200 Seiten sehr einverstanden. Meine Eltern kommen ja aus der Tradition der anatolischen Volksdichtung, wo alles von Mund zu Mund weitergegeben wird, immer in einer Kurzfassung. Manchmal wird eine große Geschichte schon in zwei Sätzen erzählt. Es wird auch immer anders erzählt. Weil jeder es anders wahrnimmt. Ich habe genau das gemacht, was in der uralten Tradition drinsteckt, und nur mit einer eigenen Sprache, mit der Sprache der Frauen.

Die andere Frage war, wie kann ich die Sprache des Autors ersticken, um die Stimme von anderen hören zu lassen, denn die reden ja nicht wie der Dinçer. Es wäre auch anmaßend gewesen, diesen Frauen gegenüber, ihnen die Sprache des Autors zu geben. Jede Sprache hat einen eigenen Rhythmus, einen eigenen Klang, und auf dem Berg, da hat man ab dem Nachmittag schon diesen wilden Wind, man hört die Glocken von Schafherden, die Hunde bellen, morgens beginnt der Tag mit dem Gebet vom Minarett. Das alles hat mir geholfen, die verschiedenen Stimmen ganz klar zu hören. Die Natur hat ihre eigene Kraft, und ich glaube fest daran, dass diese Kraft mir sehr viel geholfen hat. Auch die jüngere Generation, mein Sohn hört mittlerweile den ganzen Tag Rap; auch von ihm habe ich mich beeinflussen lassen und wollte ein Kapitel wie einen Hip-Hop-Text klingen lassen. Wir haben uns tagelang alle Stücke nochmal angehört, wie es klingt, wie man diese Texte sprechen muss. Was ich damit betonen möchte, ist, beim Schreiben habe ich sehr viel dazugelernt.

STANDARD: Die verschiedenen Stimmen haben jeweils ihre eigene Sprache, ihren eigenen Rhythmus. Das entspricht den vielen Welten, die Sie auf Ihrem Lebensweg kennengelernt haben.

Güçyeter: Ja. 1996 beginnt der Dinçer mit seiner Ausbildung als Werkzeugmechaniker, er weiß aber auch, dass es draußen in der Welt ganz verschiedene Lebensarten gibt, es gibt das Theater, es gibt die Musik, es gibt die Literatur. Anton Tschechow war damals mein größter Wegbegleiter. Ich habe meiner Mutter gesagt, ich will meine Ausbildung nicht fortsetzen, ich werde morgen kündigen. Das war für sie eine ganz große Enttäuschung. Diese Enttäuschung hat sich bei mir oder in mir als Wut entwickelt, ich wollte sie nicht enttäuschen, aber ein bisschen Anarchie gab es immer, und diese Zeilen, die ich jetzt lesen will, sind aus dieser Zeit.

STANDARD: Da kommen wichtige Punkte zur Sprache. Einerseits das Gefühl des Verrats, wenn man nicht den von den Eltern und der eigenen Klasse vorgezeichneten Weg gehen will. Den sie aus Sorge von einem fernhalten wollen. Gleichzeitig aber das Gefühl der Anarchie und der Dringlichkeit. Es muss einfach sein, dass man widerspricht. Trotzdem haben Sie eine Lehre gemacht und nicht studiert, kein Gymnasium besucht und diesen Weg in die Literatur Schritt für Schritt betreten. Sie üben weiter einen Brotjob aus, bedienen den Gabelstapler, der mittlerweile zum Image gehört. Auf Instagram habe ich eine sehr schöne Rede an den Gabelstapler gelesen.

Dinçer Güçyeter
Dinçer Güçyeter ist als Autor höchst erfolgreich, lässt es sich aber nicht nehmen, einem Brotjob nachzugehen.
IMAGO/dts Nachrichtenagentur

Güçyeter: Das war ein Liebesbrief. Jetzt bin ich bis Ende Mai freigestellt. Die Chefin ist eine Freundin von mir. Ich habe meine eigenen Normen, andere Werte, an die ich glaube, die ich sehr wichtig für meine Kinder, für meine Familie, aber auch für meine Arbeit finde, und diese Werte, diese Normen haben für den Literaturbetrieb überhaupt gar keine Bedeutung. Die können ganz schnell unter die Füße genommen werden. Ich habe auch immer wieder gesagt, ich brauche einen Abstand, und ich verstehe zum Beispiel nicht, dass viele Kolleginnen Mitleid mit mir haben, weil ich einen Brotjob mache. Keiner braucht Mitleid mit mir zu haben, ich finde es großartig zu arbeiten. Morgens um sechs mache ich meinen Kaffee, und dann kommen die ersten Lkw-Fahrer aus dem Osten, aus Polen, Ukraine, Russland, Ungarn. Mit denen trinke ich Kaffee, ich habe ja in mein Buch auch das Poesiealbum des Lkw-Fahrers eingefügt. Ich habe mit den Lkw-Fahrern Gedichte geschrieben. Dann kommen die anderen Fahrer aus England, Frankreich, die zeigen mir wieder eine ganz andere Realität, eine ganz andere Nähe. Ehrlich gesagt, ich liebe auch die Arbeit mit dem Körper. Es ist meine Entscheidung.

STANDARD: Wenn man das Buch liest, merkt man, dass Sie aus vielen Welten berichten, zu denen Menschen aus anderen Milieus den Zugang gar nicht haben und auch nicht die Möglichkeit, mit ihnen zu kommunizieren.

Güçyeter: Es gibt in der Kirche diese Kirchenbänke. Und in der Moschee gibt es die Moscheereihen: Meine Oma hat gesagt, auf jeder Moscheereihe sitzt mal eine Hure, bei uns in der Familie ist es der Dinçer. (großes Gelächter) Also einer, der ein bisschen anders tickt. Ihr Humor wird im Buch auch deutlich. Zum Beispiel haben wir gemeinsam die Ärzte aufgesucht, einmal im Monat. Sie hat mir gesagt: "Wenn ich mich jetzt gleich vor dem Arzt ausziehe, schließt du deine Augen – und wehe nicht!" Und ich wusste, wie sehr sie das genossen hat.

STANDARD: Sie hat sich ja dann auch ganz ausgezogen. Sie hätte gar nicht so viel ablegen müssen.

Güçyeter: Der Arzt hat gesagt, nur den Mantel, und hups, war sie schon nackt. Und auf dem Weg nach Hause: "Wehe, du erzählst das jemandem." Als wir dann zu Hause waren: "Schnell, schnell, ich muss jetzt beten, die Zeit ist gekommen." Dann war sie schon mit ihrem Gott beschäftigt. Aus all diesen Gründen kann ich das Buch nicht allein meine eigene Reise nennen. Vor allem die Leser und Leserinnen haben aus diesem Buch was ganz Schönes gemacht. Von allen Rückmeldungen weiß ich, egal ob aus man aus Anatolien kommt oder hier in Österreich, in Deutschland geboren wurde, in jeder Familie, unter jedem Dach ist ein Deutschlandmärchen versteckt, das nicht erzählt wurde, und jeder erhält beim Lesen sein eigenes Märchen. Und das ist das größte Kompliment, das ich in meinem Leben bekommen habe. (Sabine Scholl, 19.8.2023)