Monika Helfer
"Ich habe es immer geschätzt, dass ich etwas, was ich im Kopf habe, wieder herbeischreiben kann": Monika Helfer.
Minitta Kandlbauer

So wie sie da steht, hätte ich gern ein Foto von ihr gemacht. Die Tür und das kleine Haus umrahmen sie perfekt. Dann denke ich aber daran, was Monika Helfer im Laufe des Interviews über den Prozess des Erinnerns gesagt hat. Sie kann nicht verstehen, warum die Leute, egal, wo sie sind, tausende Fotos machen. Durch das viele "Geknipse", wie sie es nennt, nimmt man nichts mehr wahr, kann sich an nichts erinnern.

Mädchenhaft und selbstbestimmt

Ziemlich genau eine Stunde hat unser Gespräch in Hohenems gedauert, zu dem ich mit dem Zug zwei Stunden zu spät gekommen bin. Sie hat mich trotzdem vom Bahnhof abgeholt. Von hinten erkenne ich sie, ihr dunkles Haar, ein Sommerkleid aus Baumwolle. Lila? Petrol? Auf jeden Fall eine Farbe, die ihr steht. Auf den schwarzen, flachen Pumps ist sie eine mädchenhafte Erscheinung, dabei selbstbestimmt und sehr selbstverständlich. In nur wenigen Minuten zu Fuß sind wir bei ihr zu Hause.

"Kaffee?", fragt sie aus der kleinen Küche, da stehe ich schon staunend ein Zimmer weiter. Ein Raum mit niedriger Decke: ein Esstisch voll mit Unterlagen und Büchern, ein türkises 50er-Jahre-Einbauregal, vor dem Fenster in den kleinen Garten eine Art Arrangement, ein Kunstwerk aus Plastikblumen, die sich wild drapieren und den Raum verdunkeln. Rechts ein Kastenbett, eine Art Höhle. Wer hier schläft? Wirklich überall sind Bücher, oben auf einem Stapel liegt eine Kafka-Biografie. An allen Wänden hängen unzählige kleine Fotografien und Bilder, eingerahmt: Kinder, Künstlerinnen, Schriftsteller, die Familie, Monika Helfer, jung, mit Kind und ohne. Thomas Bernhard, Michael Köhlmeier, verkleidet, auch jung. Paula. Dieses Zimmer, in dem wir an einer 50er-Jahre-Sitzgruppe in der Ecke Platz nehmen, ist ein Schrein, das denke ich, aber nicht einschüchternd, aber vielleicht gar nicht in Worte zu fassen. Eine Katze streift uns um die Beine. Wir trinken Kaffee aus sehr hübschen Tassen.

Moni und Gloria

Die Jungfrau heißt der neue Roman, der nicht mehr Teil ihrer Familien-Trilogie (Bagage, Vati, Löwenherz) ist – jene Bücher, mit denen Helfer spät, mit über siebzig, zur Bestseller-Autorin wurde. In ihrem neuen Buch geht es um eine Mädchenfreundschaft zwischen Moni und Gloria, die intensive Zeit zwischen 13 und 18 – und wie sich aus dem zunächst großen Gleichklang der beiden eine zunehmend ambivalente, ja dissonante Geschichte entwickelt. Man könnte Die Jungfrau auch als autofiktionalen Roman begreifen, nicht zuletzt, weil die Autorin auch ihren Schriftsteller-Mann Michael (Köhlmeier) darin auftreten lässt ("Michael wartete daheim mit einer Guacamole auf mich"), aber das wäre zu kurz gegriffen.

Nach der Trilogie, erzählt Helfer, hat sie tatsächlich gedacht, jetzt ist es vorbei mit der Familie, aber auch, dass jeder Mensch beschreibenswert ist. "Das ist wie ein Trick, und ich hab ihn und kann es ausweiten", beschreibt sie diesen Prozess im O-Ton. Beim Lesen ihres neuen Buchs spürt man ihre Lust am Schreiben, und auch, wie sicher sie sich dabei fühlt. Sie macht einfach: "Wenn man alt ist, hat man keine Hemmungen mehr!"

Monika Helfer beeindruckt mit einer zurückhaltenden Offenheit, sie lässt sich beim Reden über ihr autofiktionales Schreiben in die Karten schauen – und wieder nicht. Aber nie aus einem Kalkül heraus. Im Gegenteil: Monika Helfer ist ganz bei sich, wenn sie über sich und ihre Arbeit redet: "Ja, es ist ein Spiel", ihre Stimme ist sanft und rau zugleich, sie möchte niemanden bloßstellen, das bespricht sie immer wieder auch mit ihrem Mann, aber Michael Köhlmeier sagt: "Mach das, das ist gut!"

"Stoßfeste Ehe"

"Eine offenkundig stoßfeste Ehe", hat die Literaturkritikerin Daniela Strigl die Verbindung zwischen Helfer und Köhlmeier genannt, "nicht hysterisch harmonisch, sondern normal harmonisch", sagt Helfer trocken, aber mit ihrem Sinn für Humor, der öfter durchblitzt. Beim Reden über ihre Literatenehe bleibt kein Zweifel darüber, wie gut sie sich verstehen, auch weil beide immens viel mit sich selbst und ihrem Schreiben beschäftigt sind. Ideal für jemanden wie Helfer. Man hätte sich längst getrennt, wenn es nicht funktionierte: "So hat es halt geklappt." Ihren Roman Die Jungfrau hat sie "ihrem Mann Michael gewidmet". Warum? "Wir sind schon so lange zusammen. Er ist mein erster Lektor, er hat das einfach verdient." Dass dieser Michael im Roman ein (harmloses) Auge auf die einstige Jugendfreundin Gloria wirft, ist, so scheint es, Teil dieses "Spiels".

Monika Helfer,
Monika Helfer, "Die Jungfrau". Roman. € 22,70 / 152 Seiten. Carl Hanser, München 2023. Das Buch erscheint am 21. August.
Hanser

Auch Die Jungfrau verhandelt wieder die Klassenfrage. "Das geht bei mir gar nicht anders, weil ich aus der Unterschicht komme." Helfer ist sich ihrer Herkunft sicher. Auf der einen Seite steht Gloria, die mit ihrer Mutter in einer überdimensionierten Villa aufwächst und von ihr einen sorglosen Umgang mit Geld lernt, auf der anderen Moni, die in ärmlich beengten Verhältnissen bei einer Tante aufwächst, sich durch ihr Weggehen schließlich befreien kann, eine Familie gründet und Schriftstellerin wird, während Gloria zurückbleibt und scheinbar nie erwachsen wird. Materielles Vermögen ist also kein Garant für ein gelingendes Leben, das bleibt unterm Strich stehen, das führen Gloria und ihre Mutter in Monika Helfers Roman traurig vor. Sie haben alles, aber kriegen nichts zustande.

Immer spielt sie

"Sie stach und mir hat es wehgetan", schreibt Helfer über diese Gloria-Freundin, aber auch: "Ich wollte sie nicht verlieren", obwohl sie eine war, die sich vor Männern immerzu produzieren musste, aber am Ende nie einen hatte. Im Laufe des Gesprächs ist gar nicht immer klar, ob Helfer über ihre Romanfigur oder tatsächlich eine alte Schulfreundin erzählt. Für ihre Literatur ist das belanglos. Das Thema habe ihr gefallen. Es geht um Konkurrenz und Eifersucht. Gloria ist kokett, immer spielt sie, und Monika Helfer spielt mit Fiktion und Wirklichkeit. "Sie war anders als andere Mädchen. Total verwöhnt, aber ohne Vater. Sie eignet sich gut", sagt Helfer. Als literarische Vorlage, das muss die Schriftstellerin nicht dazusagen. "Die Freundin lebt noch, aber sie ist aus vielen zusammengesetzt. Sie ist meine erfundene Freundin." Helfer denkt gern an diese Mädchenfreundin, das sei ein schönes Gefühl.

Monika Helfer lebt mittlerweile in einem Haushalt ohne Frauen, mit nur Männern, erzählt sie. Die große Tochter sei verheiratet in Deutschland, Helfer macht kaum merklich eine Pause, aber die gilt schon ihrer Tochter Paula Köhlmeier. "Als die Paula gestorben ist, da war so ein Loch", und so wie sie das ausspricht, tut es sich immer noch auf. Helfer füllt diese Lücke mit Geschichten. "Die Paula wäre die größte Klimakleberin aller Zeiten, mit ihr haben wir ständig über Feminismus und Emanzipation geredet. Das alles war ihr wichtig!" In Die Jungfrau geht es um Frauen, die sich selbst behaupten müssen, und den intensiven Prozess der Erinnerung: "Ich habe es immer geschätzt, dass ich etwas, das ich im Kopf habe, mir wieder herbeisehen und -schreiben kann." Monika Helfer kann sich bloß wundern über die Leute, die ständig Fotos machen, die sie nie wieder anschauen.

Die Ruhmreiche

Gloria heißt die Ruhmreiche. Der Name passt gut, oder? Mit knapper Sprache und wenigen Mitteln schafft Helfer in Die Jungfrau eine dichte erzählerische Atmosphäre. Den Ruhm hat heute allerdings Helfer als erfolgreiche Schriftstellerin. Mit dem hat sie nicht gerechnet. Sie hätte sich Kinder gewünscht und Kinder gekriegt, sich gedacht, sie werde wieder mehr schreiben, wenn die aus dem Haus sind. So war es auch. Michael hat das Geld verdient, er war stolz, dass er das geschafft hat, und sie war stolz auf ihn. "Viele glauben, das war ein Stachel für mich. War es nicht." Aber so ein Erfolg im Alter, Helfer wird 76, sei schon klasse. Alles andere wäre gelogen. Mittlerweile ist sie Uroma.

Ist dieser Tisch ihr Schreibplatz? Nein, der sei oben, "aber auch da ist Chaos". Sie lacht, ordentlich könne sie nicht schreiben, aber es ist nicht unordentlich, nur voll von Dingen, ein Platz mit vielen Erinnerungen. Neben Jugend und Freundschaft, Männer und Kinderkriegen sind auch Alter und Krankheit die zentralen Themen, die Monika Helfer im aktuellen Roman beschäftigt haben. Fürs Schreiben muss sie es nicht nur unordentlich, sondern auch ruhig haben. "Die Nacht ist eine gute Zeit", das weiß sie. Helfer hat Schlafstörungen, "was nicht so schlecht ist". Sie ist keine, die jammert. Da schreibt sie zwei Stunden und geht dann wieder ins Bett. Wenn sie mal dransitze, sagt sie, "dann ist so ein Buch ziemlich schnell fertig".

Herrlich verwildert

Ähnlich wie dieses Interview mit ihr. "Ich bin viel allein und veräußere mich nicht so", lautet Helfers Antwort auf die Frage nach ihrem Geheimnis fürs Noch-immer-Gutgehen. "Ich muss mich nicht jeden Tag mit der Öffentlichkeit abgeben." Dass sie ein naturverbundener Mensch ist, das klingt in ihrem neuen Roman an. Sie gehe ihre Runden auf dem Berg, nicht wenn es zu heiß ist, und sie ist gerne in ihrem Garten. "Jede Frau braucht einen Garten", sagt sie wieder mit diesem Selbstverständnis, sie sei ja im Wohnblock aufgewachsen und habe die Leute beneidet, die einen hatten. Aber nie wollte sie so einen gepflegten Garten. Ihrer ist herrlich verwildert.

"Ich habe geredet wie ein Buch", sagt Helfer kurz, bevor ich das Aufnahmegerät abschalte, aber sie lacht, sie finde es super, wenn die Leute zu ihr kommen. Als ich wieder im Zug sitze, googel ich das Wort "Schrein", nur um sicher zu sein, und tatsächlich: "ein Behälter zum Aufbewahren von kostbaren Dingen, Reliquien". Das kommt hin. Beim Weiterlesen stoße ich auf die Etikette beim Besuch eines Schreins. "Verbeugen Sie sich", steht da. Das machen wir gerne. Vor Monika Helfer und ihrem Schaffen. (Mia Eidlhuber, 20.8.2023)