"Konkurrenz? Mir fällt keine ein!", rappt RAF Camora in seinem meistgestreamten Track "500 PS". Das lässt sich auch auf den österreichischen Mainstream umlegen. Allein im Jahr 2023 erklomm das Rap-Ass schon mit fünf Songs den ersten Platz der heimischen Single-Charts. Seit der Programmreform von Ö3 im Jahr 1996, die das "rot-weiß-rote" Radio in ein Mainstream-orientiertes umwandelte, gelang es bei den Österreicherinnen und Österreichern überhaupt nur Christina Stürmer, sich mit mehr als vier Titeln an die Chartsspitze zu setzen. Ihre fünf toppt RAF mit mittlerweile 17 Nummer-eins-Hits klar.

Der Wiener spielt in einer anderen Liga. Insgesamt 103 Titel finden sich bis jetzt in den Single-Charts, bei denen Raphael Ragucci, wie er mit bürgerlichem Namen heißt, als Solo-Künstler oder Feature-Artist vorkommt. Der in dieser Liste zweitplatzierte DJ Ötzi hat nicht einmal ein Drittel davon in die Hitparade gebracht. 2018 und 2021 landeten sogar mehr Titel von RAF Camora in den Single-Charts als von allen anderen österreichischen Interpretinnen und Interpreten zusammen. 2022 waren es mit 14 jeweils gleich viele.

RAF Camora
RAF Camora – und dann lange nichts. Der Rapper dominiert die Charts. Hier ist er bei seinem Auftritt beim Wiener Donauinselfest zu sehen.
APA/FLORIAN WIESER

Charts auf den Kopf gestellt

"Der Bursche hat das einzig Richtige gemacht", begründet Musikexperte Andy Zahradnik den Erfolg von RAF Camora. "Er ist nach Berlin gegangen. Dort, wo damals schon diese Art von Musik ankam." Er sieht den Export des Rappers aus Wien-Fünfhaus in den etwa zehnmal so großen deutschen Markt als Vorbild, dem aufstrebende Musiktalente aus Österreich folgen sollten. Zahradnik ermittelt seit 1998 für GfK Entertainment wöchentlich die offiziellen österreichischen Verkaufscharts im Auftrag des Verbands der Österreichischen Musikwirtschaft (ifpi). Diese werden als Austria Top 40 immer dienstags auf Ö3 gespielt.

Für die Berechnung werden sowohl physische als auch digitale Verkäufe herangezogen, also Downloads und Streams. Das Anhören auf On-demand-Diensten zählt weniger als das eines gekauften Tonträgers. Der genaue Verhältnisschlüssel wird auf Basis von internationalen Wirtschaftsdaten und Erfahrungswerten festgelegt und halbjährlich angepasst. Damit ein Stream zählt, muss der Titel länger als 30 Sekunden laufen. Generell haben Streams von Bezahl-Abonnentinnen einen höheren Wert als frei zugängliche, werbefinanzierte Streams wie die auf Youtube.

Wie wichtig Streams inzwischen für die Single-Charts sind, zeigt das Album "Palmen aus Plastik 2" von Bonez MC und RAF Camora. Alle 15 Tracks darauf landeten in den Single-Charts, auch das 33-sekündige Intro. Das führte in Österreich letztlich zu einer Regeländerung. Seither werden nur noch höchstens die drei meistgestreamten Einzeltitel von Premium-Abonnent:innen angeführt. Vermutlich hätten sich ohne diese Regel noch mehr Songs von RAF Camora in der Hitparade platziert.

Österreicherinnen und Österreicher werden weniger

Früher war es bereits ein Meilenstein für Musikerinnen und Musiker, nur einmal die Charts zu stürmen. 2010 gelang dies Lukas Plöchl als Teil der Trackshittaz mit "Oida Taunz!". Er erinnert sich noch immer gerne daran zurück, sei vor Freude überwältigt gewesen: "Damals wollten alle in die Charts, da es wirklich widerspiegelte, wer Erfolg hatte." Heutzutage seien eine Chartplatzierung für das Ego der Künstlerinnen und Künstler und ein Post auf Social Media zwar immer noch von Vorteil, generell habe der Stellenwert aber deutlich abgenommen, diagnostiziert nicht nur er, sondern auch Experte Zahradnik und das Wiener Plattenlabel Ink Music.

Spotify-Playlist: Die Nummer-eins-Hits made in Austria!

Plöchl hat sich seit dem Aus der Trackshittaz im Jahr 2015 nicht nur optisch stark verändert, heute macht er unter dem neuen Künstlernamen Wendja Musik. Außerdem schreibt er Texte für andere Musikerinnen und Musiker. Die Single-Charts hat Plöchl weniger im Blick als früher, sie sind kein Ziel mehr. "Da freut man sich fast mehr, wenn man in einer Spotify-Playlist ist, die 1,5 Millionen Followerinnen und Follower hat. Denn das hören g'scheit viele Leute."

Unter ferner liefen

Als Wendja gelang ihm noch nicht der Sprung in die Single-Charts. Ohnehin spielen einheimische Künstlerinnen und Künstler dort eine immer geringere Rolle. Obwohl sich die Anzahl an Tracks in der Hitparade im Jahr 2001 von 40 auf 75 erhöht hat, ist die Zahl an österreichischen Chart-Hits aktuell auf ähnlich niedrigem Niveau wie zuletzt Ende der 1990er. Ein Hoch gab es zuletzt 2014 mit fast 100 Titeln, im Jahr 2022 lag dieser Wert bei lediglich einem Drittel. Die exakten Zahlen können von den tatsächlichen Werten abweichen, da die Erhebung all dieser Daten händisch stattfand. Außerdem wurde immer nur der Zeitpunkt des Chart-Einstiegs und nicht die ganzen Wochen, in denen die Single in den Charts war, herangezogen. Zusätzlich wurden auch in Österreich lebende und primär hier erfolgreiche Interpretinnen und Interpreten wie Semino Rossi gewertet.

Andy Zahradnik meint, die Charts würden zwar den Erfolg messen, sie haben aber noch niemanden zum Star gemacht. "Du bist in den Charts, weil du verkaufst. Du verkaufst aber nicht, weil du in den Charts bist", argumentiert er. Er zieht die Album-Charts den Single-Charts vor. Bei Alben sei die Wertschöpfung größer, es zeige besser, wie viel die Künstlerinnen und Künstler wirklich mit ihrer Arbeit verdienen.

Für Ina Regen ist das durchaus von Vorteil. "Ich bin eine Albumkünstlerin", meint die Sängerin. "Ich funktioniere in Zyklen, und mein Kunstschaffen lässt sich eher in einem Album als Geschichte zusammenfassen." Alle drei Alben der Oberösterreicherin waren bereits in den Charts, zwei auf Platz eins. Demgegenüber stehen zwei Lieder in den Single-Charts. Der Durchbruch gelang ihr Ende 2017 mit "Wie a Kind". "Ich habe mich so frei gefühlt, wie ein kleines Kind", erinnert sie sich zurück.

Frauen und Bands spielen keine Rolle

Frauen wie Ina Regen sind im österreichischen Musik-Mainstream die Minderheit. 2000 und 2005 waren die einzigen Jahre, in denen es gleich viele Frauen wie Männer in die Single-Charts schafften. In den vergangenen Jahren klaffte die Geschlechterschere immer weiter auseinander. 2021 stieg kein einziger Song einer Österreicherin neu in die Charts ein.

Ina Regen bezeichnet sich selbst als eine der wenigen Frauen, der in den letzten Jahren der Durchbruch gelungen ist. "Die Musikindustrie ist repräsentativ für die Gesellschaft, und diese ist eben männlich geprägt." Laut ihr werden männliche Interpreten, die etwa im Dialekt mentale Gesundheit thematisieren, gefeiert und beklatscht, während Frauen wie sie schnell als melancholisch oder gar jammernd gelten.

Auch Lukas Plöchl hat längst einen Mangel an Frauen identifiziert. "Fast alle Songwriter sind Männer, und das zieht sich durch die ganze Musikszene. Ganz extrem ist es bei den Bands, reine Frauenbands gibt es in Österreich so gut wie nicht." Die Zahlen untermauern das, im Zeitraum 1996 bis 2022 ist unter den zehn erfolgreichsten Bands nur eine komplett weiblich besetzt – das Ende der 2000er erfolgreiche Duo Luttenberger*Klug.

Spotify-Playlist: Die erfolgreichsten Österreicherinnen in den Charts!

Matthias Pirngruber, Manager der oberösterreichischen Band folkshilfe, begründet das damit, dass es für Burschen cooler sei, in einer Band zu sein. "Es wird immer noch als männlich betrachtet, in den Proberaum zu gehen, gemeinsam zu musizieren und ein paar Bier zu trinken." Bands nahmen im Vergleich zu Solokünstlerinnen und -künstlern in den Single-Charts über die Zeit stark ab. Pirngruber glaubt, dass Bands mehr auf Live-Auftritte setzen und dadurch nicht so stark an Verkäufe gebunden sind. 2022 konnten so nur Pizzera & Jaus sowie Seiler und Speer mit je einem Lied für eine Woche lang die Charts stürmen. 1996 gab es im Vergleich dazu 13 Neueinstiege von Gruppierungen – eines davon "Ich scheiß dir ins Hirn" von Die Hektiker.

Single-Charts sind "Siegel für Erfolg"

Lukas Plöchl wünscht sich, dass die heimische Musikszene wieder mehr Zuspruch gewinnt. "Österreichische Musik ist etwas wert, österreichische Musik ist teilweise auch saugut", meint er. Trotz der abfallenden Bedeutung sind sich der Rapper und die anderen Künstlerinnen und Künstler im Großen und Ganzen einig, dass Single-Charts auch heute noch den direkten Erfolg zeigen.

Chart-Experte Andy Zahradnik sieht darin sogar ein "Instrument der Basisdemokratie", das ganz objektiv zeigt, welche Titel in der vergangenen Woche die meisten Menschen begeistern konnten. Sie seien ein "Röntgenbild der Branche", "meistens auch ein Siegel für kommerziellen Erfolg", und außerdem "mögen Menschen und Medien gemessene Erfolge". Nicht vergessen darf man laut ihm auch nicht die starke Fanbase, welche die Wertungen Woche für Woche verfolgen. Auch er wird so einer alsbald sein, geht er doch noch in diesem Jahr in Pension. Die Verantwortung über "sein Baby", die Austria Top 40, gibt er weiter. Egal ob sie dem Nachfolger gefallen, Rap-Titel aus der RAF-Camora-Schmiede werden wohl auch für die Nachfolgerin oder den Nachfolger weiterhin Teil der alltäglichen Arbeit sein. (Hannah Bachler, Tobias Graf, Jana Leimlehner, Felix Neumann, 21.8.2023)