Hatten Sie Griechisch in der Schule? Ich nicht, aber dass Gamma nach Alpha und Beta der dritte Buchstabe im griechischen Alphabet ist, haben die grauen Zellen trotzdem irgendwann abgespeichert. Zu finden ist dieses Gamma, das als Kleinbuchstabe γ einem y ähnelt, auch in der Tierwelt. Und zwar auf den Flügeln der Gammaeule. Das ist nicht etwa eine Cousine der Waldohreule, sondern ein Schmetterling. Auf Englisch heißt er "Silver Y".
Gammaeulen (Autographa gamma) gehören zur Familie der Eulenfalter, die mit weltweit rund 35.000 Arten die größte Nachtfalterfamilie überhaupt ist. Die unauffällig grau bis braun gefärbten Gammaeulen sind zwar auch tagsüber aktiv, oft halten sie aber im Schatten Siesta. Bei uns im Garten sind sie Stammgäste beim halbhohen Sommerflieder und anderen Blüten. Aber heuer, kommt mir vor, sind es weniger als in den vergangenen Jahren. Entweder sind bisher weniger aus ihren Puppen geschlüpft, oder jene Gammaeulen, die jedes Jahr als Wanderfalter aus dem Mittelmeerraum dazukommen, wurden aufgehalten.
300 Kilometer pro Tag
Britische Forscher haben herausgefunden, dass Gammaeulen bis zu 300 Kilometer am Tag zurücklegen können. Wie? "The Answer is Blowin' in the Wind", könnte man sagen. Für ihre Wanderungen nützen sie Luftströme. Für Schmetterlinge bemerkenswert ist auch ihr Schwirrflug, mit dem sie von Blüte zu Blüte steuern. In der Dämmerung ist die Gammaeule leicht mit der selteneren Schafgarben-Silbereule (Macdunnoughia confusa) zu verwechseln, die ein wenig kleiner und kräftiger gefärbt ist und deren Gamma eher an ein Komma erinnert. Deswegen wird sie auch Silberkommaeule genannt.
Licht spielt bei allen Nachtfaltern eine Hauptrolle bei der Orientierung. Sie folgen nicht nur dem Mondschein, sondern auch künstlichen Lichtquellen. Und manchmal treten sie in Massen auf. Wie damals am 10. Juli 2016 beim Endspiel der Fußballeuropameisterschaft zwischen Frankreich und Portugal. Aus Sicherheitsgründen war das Flutlicht im Pariser Stade de France schon einen Tag zuvor eingeschaltet worden, bis zum Anpfiff hatten sich neben Fußballfans auch abertausende Motten im hell erleuchteten Stadion versammelt.
Von Ronaldos Schweiß angelockt
Ausgerechnet als Portugals Stürmerstar Cristiano Ronaldo in der ersten Spielhälfte so rüde attackiert wurde, dass er ausgewechselt werden musste, landete ein Nachtfalter auf seinem schmerzverzerrten Gesicht. Ein Millionen-TV-Publikum sah den Falter auf Ronaldos "wohlgezupfter Augenbraue", wie es die deutsche Tageszeitung "Die Welt" beschrieb. Fachleute identifizierten das freche Insekt als Gammaeule. Die Nachtfalter verdanken also CR7, der heute in Saudi-Arabien ballestert, ihre 15 Minuten Ruhm. Das Exemplar dürfte damals vom verschwitzten Antlitz des Kickers angelockt worden sein. Gammaeulen stehen nämlich nicht nur auf Nektar, sondern auch auf Schweiß. Na Prost! (Michael Simoner, 23.8.2023)