Sanft schunkelnd lasse ich – Höhenmeter für Höhenmeter – die brütende Hitze hinter mir. Die Morgensonne hat die schroffen Felsflanken an diesem Sommermorgen bereits in warmes Licht getaucht. Im Tal flimmert die Luft über dem Asphalt, Menschen in Anzügen stöhnen unter den hohen Temperaturen. Mein Ziel liegt auf 3.250 Metern, auf dem Hintertuxer Gletscher im Tiroler Zillertal, Österreichs einzigem Ganzjahresskigebiet, in einer Eishöhle 30 Meter unter der Piste.

Ein Gletschersee
Auf 3.250 Metern Höhe, knapp 30 Meter unter der Skipiste, liegt der Gletschersee. Er ist rund 50 Meter lang und fast 30 Meter tief.
Florian Scheible

Ich habe eine dicke Daunenjacke dabei, Mütze, Badeanzug und Schwimmbrille. Und ein ärztliches Attest, das belegt, das mein Körper bereit ist für das, was mich dort oben erwartet: eines der kältesten Gewässer, die es – natürlich vorkommend – auf Erden gibt.

Porträt eines weißbärtigen Mannes
Der Zillertaler Roman Erler stieß 2007 durch Zufall auf das seltene Naturjuwel. Hohlräume im Gletscher sind normalerweise nicht beständig, das Eis bewegt sich ständig. Doch hier ist der Gletscher am Eis festgefroren, die Höhle deshalb auch stabil.
Florian Scheible

Mir gegenüber in der Gondel sitzt Roman Erler, ein hochgewachsener, weißbärtiger Mann in schweren Bergstiefeln und Funktionskleidung. Kaum jemand kennt den Hintertuxer Gletscher so gut wie er. Er hat schon hunderte Gäste auf die hohen Gipfel der Tuxer Alpen geführt, ist Ski- und Snowboardlehrer – und seit einigen Jahren Unternehmer. 2007 stößt Erler durch Zufall auf ein seltenes Naturjuwel.

Eine Eishöhle
Im Natureispalast hat es konstant um die null Grad. Nicht nur Besucherinnen und Besucher aus aller Welt tappen hier auf Gummimatten in den Bauch des Gletschers hinab. Auch für Forschende ist dieser Ort ein Schatz.
Florian Scheible

Beim Abstieg vom Olperer, dem höchsten Gipfel der Tuxer Alpen, fällt dem gebürtigen Zillertaler eine rund zehn Zentimeter breite Spalte im Eis auf. Dort, wo sich die steilste Skipiste ins Tal hinabschlängelt, die Piste Nummer 5. Dort, wo es normalerweise gar keine Spalten gibt. Erler wird stutzig, stapft mit Steigeisen gerüstet dorthin. Im Schein seiner Stirnlampe erblickt er einen geräumigen Hohlraum direkt unter der Piste.

Familien am Gletscher
Reges Treiben auf dem (nicht mehr) ewigen Eis: Die Bahn am Hintertuxer Gletscher hat eine maximale Kapazität von 4.000 Personen pro Tag. Hier kann man auch das ganze Jahr über Ski fahren.
Florian Scheible

Besondere Badestätte

Er kehrt zurück, erschließt die Höhle zunächst Meter für Meter selbst. Irgendwann entdeckt er, inmitten des vermeintlich ewigen Eises, flüssiges Wasser. In einer rund 50 Meter langen und bis zu 28 Meter tiefen Gletscherspalte hat sich ein See gebildet. Im Wasser gibt es keine Ionen, weshalb es auf unter null Grad Celsius abkühlen kann – und trotzdem flüssig bleibt. Erler ist wohl der erste Mensch, der in diesem Wasser schwimmt. Im Stockfinsteren steigt er damals in das kühle Nass, ganz alleine, mit einem Neoprenanzug bekleidet.

Seltenes Naturphänomen

Heute ist der Natureispalast zu einer Touristenattraktion geworden, der Gletschersee ist hübsch ausgeleuchtet, Schlauchboote und Stand-up-Paddles stehen bereit. Mehr als 50.000 Besucherinnen und Besucher pro Jahr tappen über schwarze Gummimatten und steile Aluminiumleitern in den Bauch des Gletschers hinab, um das Naturphänomen zu bestaunen. Die wenigsten gehen ins Wasser. "Hohlräume im Eis sind normalerweise sehr kurzlebig", erklärt mir Erler. Durch die Bewegung des Eises würden Risse und Spalten für gewöhnlich schnell geschlossen. Doch hier ist der Gletscher am Fels festgefroren, der Natureispalast, der seit 2008 für Gäste offensteht, ist stabil.

Viele Menschen rutschen über den Schnee zum Eingang einer Gletscherhöhle
Seit 2008 können Gäste den Natureispalast bestaunen. 39 Euro kostet ein Ticket pro erwachsener Nase, Kinder zahlen 15 Euro. Von der Bergstation muss man nur wenige Meter gehen, bis man zum Eingang gelangt.
Florian Scheible

Eine Tour im Eispalast kostet 39 Euro pro erwachsener Nase, 15 Euro pro Kind. Gegen Aufpreis oder im Rahmen eines Workshops darf man Abtauchen ins kühle Nass. Josef Köberl, österreichischer Eisschwimmprofi und mehrfacher Weltrekordhalter, bietet solche Workshops an. Er hat mit dem Eisschwimmen begonnen, um sich für die Durchquerung des Ärmelkanals vorzubereiten, erzählt er mir, als er furchtlos in knapper Badehose in der Eishöhle vor mir steht.

Ein Mann springt ins Wasser
Josef Köberl ist österreichischer Eisschwimmprofi. Mit dem Eisschwimmen hat er begonnen, um sich auf die Durchquerung des Ärmelkanals vorzubereiten. 14 Stunden und 21 Minuten hat er dafür gebraucht. Köberl arbeitet im Klimaschutzministerium und bietet nebenberuflich Eisschwimm-Workshops an.
Florian Scheible

Ich, neben ihm noch in Daune gehüllt und leicht frierend, lausche, als er – noch immer plaudernd – Schritt für Schritt ins minus 0,5 Grad kalte Wasser steigt. Er wirkt gelassen und ruhig, wie er da bloßfüßig auf der Eisscholle steht und mich auffordert, langsam ins Wasser zu steigen. Von Aufwärmübungen rät er ab, da würden die Poren geöffnet und der Körper durch die plötzliche Kälte noch stärker geschockt. Auch ich bin mittlerweile in Schwimmkleidung, mein Herz pocht.

Zwei im Eiswasser
Schritt für Schritt steige ich unter professioneller Anleitung ins kühle Nass. Das Wasser ist minus 0,5 Grad Celsius kalt. Köberl rät mir, tief durch den Bauch zu atmen und meine Hände in die Achselhöhlen zu stecken.
Florian Scheible

"Atme tief durch den Bauch, setz dich dann kurz auf die Leiter, steck deine Hände in deine Achselhöhlen", rät Köberl. Ich spüre, wie die Kälte in meine Gliedmaßen kriecht, ein scharfer Schmerz meine Füße durchdringt. Um meine Taille hängt eine quietschgelbe Boye. Köberl sagt, er achte bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern auf deren Bewegungen und die Augen. Eisschwimmen kann gefährlich sein, auch Köberl steigt nie allein in kalte Gewässer, hat immer eine Boje dabei. Ich konzentriere mich auf meine Atmung. Noch zwei Schritte, dann stehe auch ich auf der Eisscholle.

Wie in Watte gepackt

Mein Körper ist plötzlich wie in Watte gehüllt, die Schmerzen sind weg, eine seltsame Behaglichkeit breitet sich aus. Ich verspüre eine tiefe, innere Ruhe, beuge die Knie und tauche ab, den Blick nach unten gerichtet, wo Münzen abergläubischer Touristinnen und Touristen am Grund glitzern. Nach drei kräftigen Zügen kann ich wieder stehen. Flugs klemme ich meine Hände unter die Achseln. Mein Körper ist im Überlebensmodus, konzentriert sich auf die lebenswichtigen Funktionen. Zwischen den Schulterblättern ist es noch immer sehr warm.

Ein Mann vor seinem Abbild aus Pappe
Am Hintertuxer Gletscher ist er ein Star: Der echte Köberl posiert vor dem Köberl aus Pappe. 2021 schwamm er über 38 Minuten lang im Eiskanal hin und her.
Florian Scheible

Mein Eisschwimmcoach ist hier auf dem Hintertuxer Gletscher ein Star, auf dem Hinweg sind wir an einem Köberl im Schwimmhoserl aus Pappe vorbeispaziert. 2021 ist er im Gletschersee 38 Minuten und 32 Sekunden lang hin und her geschwommen: bis vor kurzem der Weltrekord. Gegen Ende war er nicht mehr ansprechbar, erzählt er. Seine Fingerkuppen hat er sechs Wochen kaum gespürt. Ich klettere bereits nach knapp zwei Minuten wieder aus dem See, stolz und durchdrungen von einem Feuerwerk von Endorphinen, die meinen Körper beuteln. Ich zittere, minutenlang. Und kann nicht aufhören zu grinsen. (Maria Retter, 22.8.2023)