"Nur die Spitze des Eisbergs", so nannten die politischen Rivalen die Anklage gegen Sebastian Kurz wegen falscher Zeugenaussage im Ibiza-Untersuchungsausschuss. Man erwartet auch eine zweite Anklage wegen seiner Verstrickung in der ungleich gewichtigeren Inseratenaffäre. In beiden Fällen gilt natürlich die Unschuldsvermutung für den Ex-Bundeskanzler und seine Mitangeklagten.

Bereits jetzt zeichnet sich allerdings die vorauseilende Selbstverharmlosungsstrategie von Kurz und der ÖVP für den Fall ab, sollte er am 23. Oktober freigesprochen werden. Die wichtigste Waffe im politischen Arsenal der Verteidiger dürfte die berechtigte Hoffnung auf das Kurzzeitgedächtnis der Wähler sein. Wie anders wäre der neuerliche Aufstieg Herbert Kickls und der FPÖ trotz drei Regierungspleiten und der Ibiza-"Bombe" möglich?

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Im Falle der ÖVP handelt es sich aber um eine in dieser Art beispiellose Selbstentblößung durch jene Chats, in denen "hinter den Floskelfassaden geredet wurde. Nackte Interessen, üble Charakterdefizite, zügellose Gier und unverhohlene Skrupellosigkeit wurden sichtbar und schlugen sich in Formulierungen nieder, die (...) die Fassade der Kurzisten zerstörten, egal was diese dagegen unternahmen". (Armin Thurnher, "Anstandslos", 2023). Die Formulierungen Thomas Schmids, des zweiten "Hauptdarstellers" (Beamte seien "die Huren der Reichen", "Kurz kann jetzt Geld scheißen") gingen in die österreichische Folklore ein.

Man muss dabei aber jene Partei einmal würdigen, die diesen Reinigungsprozess der Politik überhaupt ermöglicht hat, nämlich die Neos, die kleinste und (da noch nie an der Macht) sauberste Gruppe im Nationalrat.

Es war der ehemalige Kurier-Chefredakteur und Neos-Abgeordnete Helmut Brandstätter, der am 24. Juni 2020 die entscheidende Frage im U-Ausschuss an Kurz gestellt hatte, und die Neos brachten die Anzeige am 29. März 2021 wegen Kurz’ Aussagen zur Bestellung von Öbag-Chef Thomas Schmid im U-Ausschuss ein. Die Neos-Abgeordnete Stephanie Krisper hat (zusammen mit dem SPÖ-Vertreter Jan Krainer) eine führende Rolle bei dem Entlarven des Postenschachers und auch der Russland-Kontakte von Politikern gespielt.

Bei den Europa-Wahlen im Frühjahr und bei den Nationalratswahlen im Herbst könnten die Neos ihre Chance nützen. Für das Überleben der liberalen Demokratie ist die Stärkung einer Partei der bürgerlichen Mitte mit festen europäischen Werten, ohne Liebäugeln mit der extremen Rechten hierzulande und in der Nachbarschaft, außerordentlich wichtig. Glücklicherweise ist die Parteivorsitzende Beate Meinl-Reisinger nicht nur eine begabte und gebildete, sondern auch rhetorisch aus der grauen Masse ihrer Kolleginnen und Kollegen im Nationalrat herausragende Spitzenpolitikerin.

Man kann nur hoffen, dass sich in der ÖVP solche konsensbereite und gemäßigte Landespolitiker, wie Anton Mattle in Tirol und Christopher Drexler in der Steiermark, ihre Position gegenüber dem anscheinend noch immer (oder erst recht) von den von Kurz geerbten Message-Kontrolloren gelenkten Bundeskanzler Karl Nehammer, mit seinem Traum von der "FPÖ ohne Kickl," rechtzeitig stärker durchsetzen werden. (Paul Lendvai, 22.8.2023)