Proteste gegen radioaktive Wasserableitung in Fukushima
In Südkorea sorgt Japans geplante Entsorgung von radioaktivem Wasser im Meer für Proteste.
AP/Lee Jin-man

Seit Monaten wurde der Plan kontrovers diskutiert, nun soll es so weit sein: Ab dem 24. August will Japan radioaktiv belastetes Kühlwasser aus dem ehemaligen Atomkraftwerk Fukushima Daiichi in den Pazifik leiten, die Nuklearkatastrophe 2011 machte das Kernkraftwerk unbenutzbar und sorgte für radioaktive Kontamination. Die Internationale Atomenergieorganisation IAEO (englisch IAEA) hat grünes Licht gegeben, Umweltschutzorganisationen und andere Staaten kritisieren das Vorgehen scharf. Ein Überblick über das Thema in Fragen und Antworten.

Frage: Warum fällt noch immer so viel Kühlwasser an?

Antwort: Ein Erdbeben und ein immenser Tsunami beschädigten 2011 vier von sechs Reaktorblöcken irreparabel; die ab 1971 betriebene Anlage war nicht vor einer Naturkatastrophe in derartigem Ausmaß geschützt. Dabei fielen Sicherheitssysteme aus, und in drei Blöcken kam es zu Kernschmelzen. Die Brennstäbe mit radioaktivem Material wurden also nicht ausreichend gekühlt, überhitzten und schmolzen. Kühlwasser trat aufgrund von undichten Behältern aus den Reaktoren aus. Um die Reaktoren unter 100 Grad Celsius zu halten, muss die Anlage seitdem durch Wasser gekühlt werden. Dabei wird das Wasser allerdings radioaktiv belastet.

Fukushima-Kühlwasser ins Meer: Scharfe Kritik an Japan.
AFP

Frage: Wie viel belastetes Wasser soll ins Meer geleitet werden?

Antwort: Aktuell werden 1,3 Millionen Tonnen aufbereitetes Wasser in mehr als 1.000 Stahltanks auf dem Gelände gelagert. Diese Menge reicht, um 500 olympische Schwimmbecken zu füllen. Der Platz in den Tanks ist mittlerweile knapp, die Kapazitäten haben der Betreiberfirma Tepco zufolge 98 Prozent erreicht. Das ist auch der Grund, warum das Kühlwasser ins Meer abgeleitet werden soll. Dafür wird das Wasser auf ein Vierzigstel der nach japanischen Sicherheitsstandards zulässigen radioaktiven Konzentration verdünnt, bevor es in den nächsten 30 bis 40 Jahren durch einen Unterwassertunnel einen Kilometer von der Küste entfernt ins Meer gepumpt wird. Maximal sollen 500.000 Liter pro Tag freigesetzt werden. Zum Vergleich: In Wien fließen bei Normalwasserstand der Donau zwei Millionen Liter pro Sekunde durch das Flussbett.

Das ehemalige Atomkraftwerk Fukushima Daiichi an der Küste Japans aus der Vogelperspektive
2011 kam es im japanischen Kernkraftwerk Fukushima zu einer Kernschmelze. Mittlerweile geht der Platz für die Lagerung von Kühlwasser aus.
via REUTERS/KYODO

Frage: Welche radioaktiven Isotope werden dadurch in welcher Konzentration ins Meer gelangen? Und wie gefährlich sind sie?

Antwort: Laut japanischen Angaben soll alles herausgefiltert werden bis auf das radioaktive Wasserstoff-Isotop Tritium, bei dem dies nicht möglich sei. Tepco will das Wasser daher so weit verdünnen, dass die Tritium-Konzentration nur 1.500 Becquerel pro Liter ausmacht, was weniger als einem Vierzigstel der nationalen Sicherheitsnorm entspricht. Das ist eher wenig. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sieht als Grenzwert für Trinkwasser (!) 10.000 Becquerel pro Liter vor. Die 1.500 Becquerel pro Liter liegen über der Radioaktivität im menschlichen Körper, die bis zu 10.000 Becquerel pro Person beträgt. Die Halbwertszeit von Tritium beträgt rund zwölf Jahre, in dieser Zeit zerfällt also die Hälfte einer bestimmten Menge zu Helium. Im Vergleich zu anderen radioaktiven Isotopen ist Tritium wesentlich weniger gesundheitsschädlich. Beim Trinken von belastetem Wasser würde der Stoff innerhalb von zwei Wochen wieder ausgeschieden werden und würde sich nicht im Körper anreichern.

An der japanischen Ostküste befindet sich das ehemalige AKW Fukushima Daiichi. Kühlwasser soll in wenigen Tagen ins Meer geleitet werden.

Frage: Gibt es in der Region dokumentierte Fälle von Fischen oder anderen Meerestieren mit stark überhöhten Strahlungswerten?

Antwort: Bereits 2016 erschien im Fachmagazin "PNAS" ein Artikel, der von 2011 bis 2015 das Belastungsrisiko von verschiedenen Arten und aus verschiedenen japanischen Präfekturen ermittelte. Das Resultat: Seit April 2011 nahm die Belastung der Meeresfische auch in der hauptbetroffenen Region stetig ab. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Kontamination mit den Cäsium-Isotopen Cs-134 und Cs-137 (die Halbwertzeiten von etwa zwei und 30 Jahren haben) den Grenzwert von 100 Becquerel pro Kilogramm (Bq/kg) übersteige, sei in Fukushima für Salz- und Süßwasserfische sehr gering. Bei Süßwasserfischen könnte der Wert 20 Bq/kg übersteigen – für Meeresfische sei das aber äußerst unwahrscheinlich. Viele Staaten, darunter auch jene der Europäischen Union, haben daher vor kurzem ihre Einfuhrbeschränkungen für Nahrungsmittel aus der Region Fukushima aufgehoben.

Frage: Und wie sah es in den vergangenen Monaten aus?

Antwort: In den letzten zwölf Monaten wurden insgesamt 44 Fische mit erhöhter Cäsium-137-Belastung gefunden, hauptsächlich nahe dem inneren Wellenbrecher des Kraftwerks, aber auch etwa 50 Kilometer entfernt, wie der "Guardian" berichtete. Ein im Mai gefundener Steinfisch, der im Übrigen zu den giftigsten Fischen der Welt zählt, wies eine Cäsium-137-Konzentration von 18.000 Becquerel pro Kilogramm auf, was einer 180-fachen Überschreitung des gesetzlichen Grenzwerts in Japan entspricht. Das scheint aber die absolute Ausnahme zu sein.

Fischer auf seinem Fischerboot im japanischen Ort Tsurushihama in der Region unweit von Fukushima Daiichi.
Das AKW-Unglück von Fukushima hat noch immer einen großen Einfluss auf die Fischerei in der Region, auch 60 Kilometer vom Kernkraftwerk entfernt wie hier inTsurushihama. Noch immer gibt es Einfuhrbeschränkungen für Lebensmittel aus dieser Gegend.
AFP/PHILIP FONG

Frage: Werden vergleichbare Einleitungen auch andernorts unternommen?

Antwort: "Kernkraftwerke auf der ganzen Welt leiten seit mehr als 60 Jahren routinemäßig Tritium-haltiges Wasser ab, ohne dass dies für Mensch oder Umwelt schädlich ist", sagt Ingenieur Tony Irwin von der Australian National University in Canberra, der auch technischer Direktor der Beratungsfirma SMR Nuclear Technology ist. Meist seien das höhere Konzentrationen als die 22 Terabecquerel pro Jahr, die in Fukushima geplant seien. "Zum Vergleich: Das südkoreanische Kernkraftwerk Kori leitete im Jahr 2019 91 Terabecquerel ab, mehr als das Vierfache des geplanten Fukushima-Abflusses." Das chinesische Kernkraftwerk Fuging leitete 2020 etwa 52 Terabecquerel ab, wie aus Recherchen des japanischen Wirtschaftsministeriums hervorgeht, schreibt die deutsche Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit GmbH, und: In Wiederaufbereitungsanlagen in Großbritannien und Frankreich lagen die Jahreswerte sogar bei 423 und 11.400 Terabecquerel. Wenn die gefährlichen Radioisotope in Japan wie angekündigt unter den vorgeschriebenen Werten lägen, handle es sich um einen "sehr konservativen" Ableitungsplan, sagte Irwin. Entsprechende Messungen an Wasserproben aus den Tanks wurden laut einem im Mai veröffentlichten IAEO-Bericht in diversen Labors der Organisation – unter anderem in Wien und im niederösterreichischen Seibersdorf – und unabhängigen Labors durchgeführt. Sie kamen zum gleichen Ergebnis und konnten keine zusätzlichen radioaktiven Isotope finden.

Frage: Gäbe es Alternativen zur Verdünnung im Meer?

Antwort: Ja: Das belastete Wasser könnte beispielsweise verdampft werden und so in die Atmosphäre gelangen, man könnte es auch tief im Erdboden einlagern oder mit Zement mischen und einschließen. Die letztgenannte Methode schlägt auch das Pacific Island Forum Scientific Panel vor. Somit wären andere Völker im Pazifik, die nicht zu den Problemen rund um die Sicherheitsprobleme von Kernkraftanlagen beigetragen hätten, nicht betroffen, sagt der Meeresbiologe Robert Richmond von der Universität Hawaii in Manoa. Wie sich bestimmte Radionuklide im Meer verhalten, müsse besser erforscht werden: "Wichtig ist, dass die potenziellen negativen Auswirkungen und Folgen nicht unabhängig von der Vielzahl von Stressfaktoren sind, die die Gesundheit der Meere und der Menschen, die von ihnen abhängen, bereits beeinträchtigen", sagt der Biologe. Dazu gehöre etwa die Belastung durch Pestizide, Schwermetalle, Industrieabfälle, Kunststoffe, der Klimawandel und Störungen des Ökosystems infolge der übermäßigen Ausbeutung der Ressourcen. Doch beim Einschluss des kontaminierten Wassers in Beton käme es ebenfalls zu Verdampfungen, wodurch es in die Atmosphäre kommen könne, kritisierte die japanische Regierung den Vorschlag. Die Möglichkeiten wurden jahrelang gegeneinander abgewogen, und das Einleiten ins Meer wurde als beste Lösung befunden, auch wenn sie nicht ideal ist.

Tanks zur Lagerung von Kühlwasser
Die Tanks voll behandelten Wassers kommen an die Grenzen ihrer Kapazitäten. Noch immer muss radioaktives Material aufgrund des AKW-Unfalls vor zwölf Jahren gekühlt werden.
via REUTERS/KYODO

Frage: Was sagen andere Staaten in der Region und weitere Fachleute dazu?

Antwort: China, Russland, Südkorea und andere Pazifikstaaten sehen Japans Pläne sehr kritisch und plädieren eher für die Verdampfungsmethode. Tony Hooker von der Universität Adelaide in Australien, der sich mit Strahlenschäden beschäftigt und das Zentrum für Strahlenforschung, Bildung und Innovation leitet, befindet ebenfalls: "Verdünnung ist nicht mehr die Lösung für Verschmutzung. Während die Japaner ihre Abwässer in der Zwischenzeit entsorgen können, wäre es eine gute Gelegenheit, in Zukunft andere Entsorgungsmethoden zu prüfen." Andererseits ist er auch der Ansicht, dass der japanische Plan solide sei und die derzeitigen Strahlenschutzpraktiken nutze, um die Wasserentsorgung zumindest auf kurze Sicht anzugehen. Nigel Marks von der Curtin University im australischen Perth äußerte sich hingegen skeptisch gegenüber der "Desinformationskampagne" vonseiten Südkoreas und der Pazifikstaaten, die die Öffentlichkeit ungerechtfertigt in Aufruhr versetze. "Fast alles ist radioaktiv, auch der Pazifische Ozean, wo Tritium nur 0,04 Prozent der gesamten Radioaktivität ausmacht", sagt der Physiker. Der gesamte Pazifik enthalte 8.400 Gramm reines Tritium, und Japan werde jedes Jahr 0,06 Gramm Tritium freisetzen. "Die winzige Menge an zusätzlicher Strahlung macht nicht den geringsten Unterschied aus. Der Wert von Meeresfrüchten, die ein paar Kilometer von der Meeresmündung entfernt gefangen werden, entspricht der Tritium-Strahlung, die ein Biss in eine Banane ausmacht."

Frage: Wird die Einleitung von unabhängiger Seite überwacht werden?

Antwort: Ja, Japan und die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO), die mit den Vereinten Nationen verbunden ist und ihren Hauptsitz in Wien hat, haben eine Vereinbarung: Die Organisation wird in Fukushima Daiichi präsent sein, wie IAEO-Generaldirektor Rafael Mariano Grossi am Dienstag verlautbarte. Seine Mitarbeiter vor Ort sollen sicherstellen, dass die vereinbarten Sicherheitsstandards auch am Beginn der Einleitung und danach eingehalten werden. Die IAEO wird auch die verfügbaren Daten zur Nutzung durch die weltweite Gemeinschaft veröffentlichen, einschließlich der Bereitstellung von Überwachungsdaten in Echtzeit. Wie die Organisation mitteilte, seien die Auswirkungen dieser Kühlwassereinleitung auf Mensch und Umwelt "vernachlässigbar". Die österreichischen Grünen beziehungsweise Martin Litschauer, ihr "Anti-Atom-Sprecher" (sic! – eine solche Funktion gibt es wohl nur in einem Land, in dem ein Verfassungsgesetz regelt, dass es "atomfrei" bleibt), orten darin allerdings einen Skandal, weil die IAEO keine unabhängige Organisation sei und daher auch kein adäquates wissenschaftliches Gremium. Japanische Behörden wollen in den nächsten Wochen und Monaten Fische in den Gewässern in der Nähe der Anlage testen und die Ergebnisse auf der Website des Landwirtschaftsministeriums zur Verfügung stellen. (Julia Sica, Klaus Taschwer, 22.8.2023)