Er wollte in ein Land zurückkommen, das sich nach vorn bewegt hat, erzählte der österreichische Regisseur Günter Schwaiger jüngst zu seinem Dokumentarfilmprojekt über Hitlers Geburtshaus in Braunau. Doch dann musste er feststellen, dass die oberösterreichische Gemeinde drauf und dran war, den Wunsch Hitlers nachzukommen, indem sie plante, in besagtem Haus eine Polizeistation einzurichten.
Schwaigers Doku Wer hat Angst vor Braunau? erzählt von den skurrilen Politika und den persönlichen Geschichten, die sich rund um das Haus ereignen, in dem Adolf Hitler 1889 geboren wurde und worin er drei Jahre lang lebte. Es gäbe wohl keinen besseren Eröffnungsfilm für ein Filmfestival, das sich "Der neue Heimatfilm" nennt und von 23. bis 27. August im ebenfalls oberösterreichischen Freistadt stattfindet.
Heimat ist ... kompliziert
Das "neu" im Namen gibt den Ton des seit 1988 bestehenden Filmfestivals an. Der Begriff Heimat wird hier mithilfe von Genre-, Gattungs- und Nationalgrenzüberschreitungen filmisch auf den Prüfstand gestellt. Innerhalb des letzten Jahrzehnts haben sich Identitäts- und Migrationsthemen herauskristallisiert, aber auch der Strukturwandel im ländlichen Raum soll Thema sein und bleiben.
Das zur Diskussion einladende Double Feature Otzenrath lässt denn auch eine der ersten Zwangsumsiedlungen eines deutschen Ortes Anfang der 2000er in den Braunkohlegebieten Nordrhein-Westfalens Revue passieren – zu sehen in zwei Dokumentarfilmen über den Ort Otzenrath des Bonner Filmemachers Jens Schanze, der auch zu Gast sein wird.
Schleichende Radikalisierung
Am Dokumentarfilmwettbewerb nehmen heuer sechs Filme teil. Neben Wer hat Angst vor Braunau? etwa Les filles d’Olfa der Tunesierin Kaouther Ben Hania. Die experimentelle Dokumentation begibt sich in das Leben Olfa Hamrounis, einer alleinerziehenden Mutter von vier Töchtern, von denen sich zwei dem Islamischen Staat anschlossen. Die Mutter und ihre zwei jüngeren Töchter blieben übrig, sie spielen sich in Ben Hanias Film selbst. Die Lücke der zwei inhaftierten Schwestern wird von Schauspielerinnen gefüllt. Ein aufwühlendes Kinoerlebnis, das heuer in Cannes schmählich übergangen wurde.
Viele Debütfilme
Die internationale und entdeckungsfreudige Perspektive zeichnet sich auch im ebenso kleinen Spielfilmwettbewerb ab, der mit ganzen vier Langfilmdebüts bestückt ist. Geranien von Tanja Egen entführt wieder in die Kohleregionen des Ruhrpotts, widmet sich dort aber einer Mutter-Tochter-Beziehung. Amjad Al Rasheeds jordanisches Debüt Inshalla Walad erzählt von einer jungen Witwe, die eine Schwangerschaft fingiert, um die patriarchalen Erbgesetze ihres Landes auszutricksen. Und in zwei Festivalbeiträgen, The Quiet Migration der südkoreanischstämmigen Dänin Malene Choi und Remember to Blink (Regie: Austeja Urbaite, Litauen), geht es um Adoptivkinder und ihre Fremdheitserfahrungen.
Einen besonderen Platz im Herzen des Freistädter Filmfestivals hat aber der italienische Film, dessen 30-jährige Festivalpräsenz heuer gebührend gefeiert wird. Viva il cinema! (Valerie Dirk, 22.8.2023)