Speerwerferin Victoria Hudson, Gesicht mit Speerspitze in Großaufnahme
Victoria "Vicky" Hudson (27) liegt mit 64,05 Metern in der Jahresweltbestenliste auf Rang fünf. Sie geht am Mittwoch bei der Leichtathletik-WM in Budapest aufs Finale los, das am Freitag stattfindet.
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Victoria Hudson ist, sagt ihr Trainer Gregor Högler, "eigentlich ein Katapult. Sie zündet von unten nach oben durch. Und die Energie schießt durch ihren ganzen Körper." So beschreibt Högler den Moment, in dem Hudson ihren Speer auf die Reise schickt. Die 27-Jährige ist nämlich nicht bloß ein Katapult, sondern auch Speerwerferin und eine der größeren heimischen Hoffnungen auf einen Spitzenplatz bei der Leichtathletik-WM in Budapest. Am Mittwoch qualifizierte sie sich für das Finale am Freitag. Die Tochter eines Briten und einer Österreicherin hat sich heuer in der absoluten Weltspitze etabliert, Bronze bei den European Games und ein fünfter Platz beim Diamond-League-Meeting in Lausanne unterstreichen es.

Hudsons Rekord liegt bei 64,68 Metern, heuer warf sie schon 64,05 Meter weit. Doch was muss passieren, damit der Speer ins Fliegen kommt, welche Kräfte wirken beim Abwurf zusammen, worauf muss Hudson achten? Fragen über Fragen. Hudson und Högler holen Luft und weit aus.

Das brutale Bremsen

"Eigentlich geht es um den Energieerhaltungssatz der Mechanik", sagt Högler. Er war selbst 15 Jahre lang Speerwerfer, WM-Zehnter 1997, WM-Zehnter 1998, Olympiateilnehmer 2000. Er ist Sportdirektor des Verbands (ÖLV), und er hat Maschinenbau studiert. "Eine Energie, die du aufbringst, bleibt konstant, wenn das System von außen nicht beeinflusst wird. Wer die Energie des Anlaufs am brutalsten herunterbremst, bringt die meiste Energie auf. Wer kürzer bremst, bringt den Speer am weitesten."

"Vicky" Hudson läuft mit gut 20 km/h an. Sie wirft rechts, das heißt, das linke Bein ist ihr Stemmbein. "Beim Abwurf kommen viele Kräfte zusammen", sagt sie. In erster Linie die Geschwindigkeit, mit der sie angelaufen ist, und der Impuls, den ihr Körper durch das abrupte Abbremsen erfährt. "Dazu kommt, dass ich den Speer mit Rotation werfe. Dadurch kriegt er noch Geschwindigkeit dazu."

Speerwerferin Victoria Hudson im Anlauf
Acht geraden Schritten im Anlauf folgen drei seitliche, am Ende wird Hudsons linkes Bein zum "Stemmbein", und das Katapult schickt den Speer auf die Reise.
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Viele Frauen werfen ihren Speer, der 220 Zentimeter lang ist und 600 Gramm wiegt, im Vergleich zu Männern "gerade". Das heißt, der Speer zeigt schon im Anlauf in die Wurfrichtung. Victoria Hudson wirft anders. "Unser Ziel ist es, dass die Vicky wie ein Mann wirft", sagt Högler. Stichwort Rotation. "Sie muss den Speer hinten rausnehmen", bringt ihn erst im Abwurf auf Linie, verlängert dadurch den Beschleunigungsweg. Hudson: "Ich darf, obwohl ich aggressiv sein muss, am Ende nicht draufdrücken." Spielt alles gut zusammen, so hat, heißt es im Fachjargon, die Werferin oder der Werfer "den Speer getroffen".

Hudson sollte ihre besten und erfolgreichsten Jahre noch vor sich haben. Mit 27 gehört sie zu den Jüngeren, gute Speerwerferinnen sind nicht selten Mitte oder Ende 30. "Ich zähle nicht zu den Größten und Schwersten", sagt die 1,69 Meter große und 64 Kilo schwere Athletin. "Aber das muss nichts heißen", sagt sie auch. Högler: "Vicky ist vielleicht die sprungstärkste von allen, sie springt aus dem Stand beidbeinig 2,98 Meter weit, sie verfügt über eine enorme Schnellkraft."

Der ideale Winkel

Der Moment des Abwurfs. Das linke Bein ist möglichst ausgestreckt, der ideale Winkel wären also 180 Grad. Högler: "Jan Zelezny war der Einzige, der den Winkel halten konnte, der hat sogar 183 Grad zuwege gebracht." Auf die Gelenke drücken enorme Kräfte, Högler spricht von einem Vielfachen des Körpergewichts. Es ist davon auszugehen, dass da kurzfristig 600 bis 700 Kilogramm auf Hudsons linkes Fußgelenk wirken und garantiert noch deutlich mehr auf ihr linkes Knie. Aber "weich werden" ist keine Option. "Wenn Vicky im Wurf weich wird, hat sie keinen Hebel mehr, und der Wurf funktioniert nicht."

Im Anlauf macht Hudson acht gerade und drei seitliche Schritte. Der Letzte, die Zeitspanne zwischen rechts aufsetzen und links aufsetzen, sollte ganz genau 20 bis 23 Hundertstel einer Sekunde dauern. "Das könnte", hofft Högler, "noch auf 19 Hundertstel ausbaubar sein." Hudsons Anlauf ist exakt 23,1 Meter lang, also knapp zehneinhalb Speerlängen.

Beim Abwurf geht es um Explosivität, aber gleichzeitig auch um Ruhe, um Kontrolle. "Die Wiege der Dynamik liegt im Rumpf", das ist ein klassischer Högler-Satz, dem eine klassische Högler-Ausführung folgt. "Wir betrachten die Muskelkette mit Pectoralis, Latissimus und Trizeps wie ein Gummiband, lassen diese Muskeln, die maximal vorgereizt sind, am Ende sozusagen schnalzen." Aber: "Vicky muss die Explosivität zügeln, damit der Speer ja nicht aus der Achse gerät, sondern ruhig steht." Ruhig stehen und schnell fliegen, das schließt einander in diesem Fall nicht aus, im Gegenteil, das geht Hand in Hand.

Das ewige Tüfteln

Soweit Trainer Högler es überblickt, ist Hudson die einzige Weltklassewerferin, die den Speer mit dem Zangengriff hält, ihn zwischen Zeige- und Mittelfinger einklemmt. Da ist der deutsche Europameister Julian Weber ein Vorbild. "Ich finde die Übertragung zum Speer, die sich so ergibt, sehr interessant", sagt Högler. "Der Zangengriff kann bewirken, dass sich die Speerspitze nach sechzig Metern etwas langsamer senkt."

Gregor Högler hat zeit seiner eigenen Karriere getüftelt, dann tüftelte er mit Gerhard Mayer, dem ersten Diskuswerfer, den er betreute, jetzt tüftelt er mit Lukas Weißhaidinger, dem zweiten, und mit Vicky Hudson. Sie alle haben den Wurf in die Weltklasse geschafft. Und sie alle glauben an Höglers Leitsatz, der da lautet: "Es gibt eine Unendlichkeit an Verbesserungsmöglichkeiten." (Fritz Neumann, 23.8.2023)