Skulptur von Kris Lemsalu am Wiener Graben
Kris Lemsalus fünf Meter hohe Skulptur Chará kann vieles sein. Für die estnische Künstlerin ist sie ein Portal zu einer glücklichen Reise.
KOER / Iris Ranzinger

Egal ob Fransenperücke, Make-up in Regenbogenfarben oder Tüll-Klamotten: Kris Lemsalu liebt es, sich in Schale zu werfen. Die teils selbstdesignten Outfits trägt sie nicht nur für ihre Performances, sondern auch im Alltag. "Manchmal verkleide ich mich, um zum Supermarkt zu gehen", erzählt sie, "und kichere vor mich hin."

Ihre exzentrischen Kostüme sind aber mehr als performativer Spaß. Die nomadenhaft zwischen New York, Tallinn und Wien pendelnde Künstlerin bezeichnet sie nämlich als ihr Zuhause. Sie dienen als Schutz und zugleich als Vehikel, um offener zu sein und aufzufallen. "Wie bei einem Pfau ist das Kostümieren für mich eine Form der Kommunikation", sagt Lemsalu.

Als aufsehenerregend gelten auch ihre surreal-karnevalesken Skulpturen, die oft in grellen Farben und mit allerlei Requisiten ausgestattet sind. Viele dieser hybriden Figuren formt sie aus Keramik und mischt sie mit gefundenen Objekten sowie Textilien, manche davon stammen direkt aus ihrer Garderobe.

Künstlerin Kris Lemsalu vor ihrer Skulptur am Wiener Graben
Kris Lemsalu bezeichnet sich als Nomadin und pendelt aktuell zwischen Tallinn, Wien und New York.
Maria Ziegelböck

Lemsalus neueste Arbeit posiert nun wie ein hellrosa Paradiesvogel auf dem öffentlichen Kunstplatz auf dem Wiener Graben, der seit 2010 bespielt wird. Die fünf Meter hohe Skulptur namens Chará ist dem Kiefer eines Rentiers nachempfunden und erinnert an ein Herz, ein Portal oder eine Vagina. Durch die Zähne – zwei glitzern sogar – wird sie zur "Vagina dentata".

Faszination des Narrentums

Ein Motiv, das Lemsalu öfter aufgreift, sich damit aber nicht unbedingt auf Sigmund Freuds Kastrationsangst bezieht. Vielmehr verweist sie auf ältere, indigene Leseweisen der bezahnten Vagina, in denen sie als Schutzsymbol gegen Vergewaltigung sowie männliche Dominanz fungiert.

"Ich glaube, dass viele Frauen heute den Wunsch nach dieser Protektion haben", sagt sie nachdenklich. Im nächsten Moment wischt sie diese ernsthafte Interpretation wieder vom Tisch und gleitet gedanklich ins Absurde. "I am absurd, so I am", sagt Lemsalu und lacht. Sie sei eine spielerische Person, ihre Werke seien so wie sie.

Kris Lemsalu in Kostüm 
Ihre selbstdesignten Kostüme trägt die Künstlerin nicht nur für ihre Performances, sondern auch im Alltag. Why not?
Edith Karlson

Außerdem faszinieren sie folkloristische Geschichten. Besonders beeindruckt sie die Gestalt der Baubo, die als Närrin die griechische Göttin Demeter aufheitern möchte – und als Scherz ihre Vulva entblößt. Immer wieder verknüpft Lemsalu solche mythischen Narrative mit poppigen Elementen.

Es ist genau dieser Spagat zwischen feministisch-kritischer Realität und überhöht humorvoller Geste, der aktuell von der Kunstwelt geschätzt – und von politischer Seite kritisiert wird. Zumindest auf lokaler Ebene in Österreich. Die FPÖ wetterte bereits 2022 gegen Lemsalus bei Melk aufgestellte Skulptur, da diese den Ausblick auf das "wunderschöne Stift Melk" verstellen würde. Und auch an der öffentlich finanzierten Chará und ihrer Symbolik stößt man sich. Der Wiener FPÖ-Chef Dominik Nepp bezeichnete "diese Art von Kunst als völlig geschmacklos".

Wiedergeburt im Nussknacker

Dabei stammt der Name Chará aus dem Altgriechischen und bedeutet Freude. Harmlos und subtil (manche erinnert die Form an einen Nussknacker) soll Lemsalus Skulptur ein Portal zu einer "joyful journey" oder einer Wiedergeburt sein, sagt die 1985 geborene Künstlerin, die bei Monica Bonvicini an der Akademie der bildenden Künste studiert hat.

Kris Lemsalu: Birth V - Hi and Bye. Estonian Pavilion at the Venice Biennale 2019
VernissageTV

Auf der Venedig-Biennale 2019 stattete Lemsalu den estnischen Pavillon mit einem meterhohen Brunnen tanzender Figuren aus, auf dem bunte Keramik-Vaginas als Wasserspeier dienten. Ihre dazugehörige Performance, die einer mystischen Prozession ähnelte, galt als Hingucker auf der Kunstschau. Die Freude an solchen Happenings lernte sie von der Wiener Künstlergruppe Gelatin, mit der sie bereits öfter kooperierte.

In den letzten Jahren nahm die Karriere Lemsalus zunehmend Fahrt auf. Mit ihren Themen und Materialien trifft sie einen Nerv der Zeit. Formen, Zuschreibungen und Identitäten werden vermengt, und Grenzen verschwimmen. Dass Lemsalu eine große Soloschau gewidmet wird, scheint nur eine Frage der Zeit.

Lustigerweise hat die Künstlerin trotz ihres Hangs zur Selbstinszenierung keinen Social-Media-Account, erst seit ein paar Jahren besitzt sie ein Smartphone. Ihre Bühne ist die Realität, die sie mit ihrer reichen Fantasie ausschmückt. Absurdität für alle! (Katharina Rustler, 24.8.2023)