Maria Lazar
Nach fast hundert Jahren hat diese Stimme eines First-Wave-Feminismus ihre Verve nicht verloren.
ullstein bild - Trude Fleischman

Die aus Wien vertriebene Schriftstellerin Maria Lazar (1895–1948) wird im deutschsprachigen Literaturbetrieb erst seit wenigen Jahren wiederentdeckt, dafür umso nachhaltiger. Bühnen in Wien, Berlin und Graz spielen ihre Stücke. Erstmals publiziert der Verlag Das vergessene Buch mit Viermal ICH ein zuvor unveröffentlichtes Werk aus ihrem Nachlass, der nach Jahrzehnten im Verborgenen eines Wohnzimmers im britischen Nottingham mittlerweile im Wiener Literaturhaus lagert.

Der in den späten 1920er-Jahren entstandene Roman beobachtet den Wandel der Gesellschaft aus der noch neuen Perspektive weiblicher Selbstermächtigung. Mit analytischer Präzision treibt Maria Lazar ihren Figuren jede Illusion aus, aber das in einer Sprache starker Bildwirkungen. Ihr virtuoses Erzählen lässt spätere Entwicklungen der Moderne schon anklingen. Bei aller Entdeckungsfreude der Gegenwart bleibt dennoch die Frage: Wie konnte diese ästhetisch und politisch so wichtige Stimme in der österreichischen Literatur der 1920er-Jahre nach Exil und frühem Tod für gut siebzig Jahre einfach vergessen werden? Sieben Jahre Naziherrschaft scheinen nicht die einzige Ursache dafür.

First-Wave-Feminismus

Den Titel des Romans kann man einfach beim Wort nehmen. Viermal ICH erzählt von vier jungen Frauen, zwischen denen sich seit den ersten Tagen in den Schulbänken eines Wiener Mädchengymnasiums irgendwann nach der Jahrhundertwende über alle Unterschiede des Temperaments, der Herkunft und der Haltung zum bevorstehenden Erwachsenenleben hinweg eine Art unsichtbares Band knüpft, das keineswegs nur aus Sympathie besteht.

Die namenlose Ich-Erzählerin nimmt ihre drei Kameradinnen vom ersten Spätsommertag nach den Ferien an in den Blick und lässt sie bis ins Erwachsenenalter nicht mehr los. Sie beobachtet ihre gelangweilten Tagträume zwischen Schulbänken, hört das Rascheln des Löschpapiers, auf das eine mit tropfender Füllfeder irgendwelche intimen Sensationen kritzelt, beschreibt bis in den letzten Saum Details der Kleidung, die jene, die gerade aus ihr herauswachsen, noch ungelenker erscheinen lassen. Die Schulsituation im Roman ist erstaunlich wenig repressiv. Hier entsteht nicht die weibliche Variante einer Törleß-Erzählung, aber auch keine literarische Introspektion über Empfindsamkeiten und unerfüllte Wünsche, wie sie eine hartnäckige Tradition aus der Romantik bis in die Gegenwart hinein dem weiblichen Schreiben nahelegt.

Dass sich Maria Lazar vom einen wie vom anderen in ihrer Prosa so vehement abstößt, hat mit ihrer persönlichen Bildungsgeschichte zu tun. Um die Jahrhundertwende gehörte Wien zu jenen intellektuellen und kulturellen Zentren, in denen auch die Reformpädagogik des 20. Jahrhunderts mitentwickelt wurde. Die junge Maria war bei den ersten Jahrgängen schon im Schulprojekt von Eugenie Schwarzwald mit dabei. Nach Anfängen um 1900 konnten hier Mädchen ab 1911 die Matura ansteuern. Unterricht in Künsten und Wissenschaften erteilten Geistesgrößen der Zeit aus erster Hand – darunter Adolf Loos, Arnold Schönberg, Hans Kelsen und Oskar Kokoschka, der sie mit dem Gemälde Dame mit Papagei 1916 porträtierte. Heute hängt das Bild in der Stuttgarter Staatsgalerie.

Kampf für eine gerechtere Gesellschaft

Den Anspruch dieses First-Wave-Feminismus hatte die junge Maria gleichsam von der Taferlklasse an verinnerlicht. Die Schule war der Startblock zum Sprung in eine sich wandelnde Gesellschaft für nicht wenige, die später in Kunst und Wissenschaft eine Rolle spielen sollten. Mädchenbildung, Frauenwahlrecht, Republik – unterbrochen von der Katastrophe des Weltkriegs hätte der Weg in eine gerechtere Gesellschaft einfach weitergehen können. Die Tendenzen allerdings, die all das, was in dieser Stadt an Errungenschaften geleistet wurde, nicht erst 1938 unwiederbringlich zerstören sollten, waren damals schon vorhanden und keineswegs nur unterschwellig.

Aber noch machten bahnbrechende Erkenntnisse über Menschen und Gesellschaft in Psychologie, Psychoanalyse, Naturwissenschaften und Gesellschaftstheorie den Fortschritt zu einem Gegenstand von Naherwartungen. Es entsteht eine Literatur, die spekulative Subjektivität genauso zurücklässt wie die Autorität geschlossener Weltbilder, die schonungslos nach den Tatsachen fragt und letztlich in die Gesellschaft eingreifen will. Maria Lazars Roman ist auch ein Versuch darüber, wie Prosa im wissenschaftlichen Zeitalter hätte aussehen können. Zufällige Beobachtungen, vermeintliche Belanglosigkeiten der Schulzeit triggern die Erinnerung an Rebellionen und Sehnsüchte, die einst die sich so rasant verändernden Körper jäh mitgerissen haben, auch noch Jahre später im Sprung der Zeitebenen. Die erzählende Protagonistin ergreifen sie im Alter einer jungen Erwachsenen, bestärken ihr Gefühl für die multiple Ich-Einheit der vier Frauen. Nach einem Geschichtsstudium langweilt sich die Erzählerin als Bibliothekarin mit fixer Anstellung und Pensionsanspruch, wie sie immer wieder spöttisch betont.

In der Berufstätigkeit haben sich die Perspektiven einer bürgerlichen Mädchenbildung, die über auf Französisch Parlieren und etwas Klavierspielen im eigenen Salon hinausgeht, einigermaßen erfüllt. Ein tatsächlich gleicher Anteil an der Welt, am Streben nach Glück ist in ihrer Gesellschaft noch nicht denkbar. Das zeigt sich etwa auch in den Nachstellungen ihres schmierigen Vorgesetzten, der sonst nur zu Prostituierten geht und dem sie darum halb mit Ekel, halb mit einem fast medizinischen Interesse an männlich-menschlicher Monstrosität begegnet. Der Versuch, einigermaßen angstfrei "comme des garçons" spontanen Neigungen nachzugehen, stößt an die Grenzen einer latenten Gewalt in den gesellschaftlichen Verhältnissen.

Kokoschka porträtierte die junge Maria Lazar als "Dame mit Papagei" 1916.
A. Koch / Interfoto / picturedes

Unzuverlässiges Erzählen

Maria Lazar entfernt sich in Viermal ICH weit vom kontinuierlichen Strom des Erzählens, schneidet ähnlich dem damals noch jungen Medium Film Zeitebenen in harten Schnitten und ohne Übergang gegeneinander. Brücken der Assoziation ersetzen kausale Gewissheiten. An die Stelle des Aneinanderreihens der Dinge auf den Perlschnüren realistischer Prosa tritt Gleichzeitiges in filmischen Tableaus, die sich bildmächtig selbst erklären. Ihre Sprache ist die einer gesteigerten sinnlichen Wahrnehmung. Gelegentlich meint man, das Erzählte nicht nur sehen und hören, sondern auch riechen und schmecken zu können.

Die Schilderung des Brechreizes, ausgelöst durch eine etwas überständige Fleischsuppe, erzählt möglicherweise alles, was erzählbar ist, über die Panik vor einer ungewollten Schwangerschaft. Lazar entwirft steile Metaphern und Wortneuschöpfungen. Der überwundene Expressionismus ist in Spurenelementen noch nachweisbar, aber all das dient der beschreibenden Präzision und verliert nie seine leichte Hand.

Der literaturwissenschaftlichen Erzähltheorie hält Maria Lazar ein paar schöne Probleme zur Forschung bereit. Sie entwirft eine eigenwillige Form des unzuverlässigen Erzählens. Ihre Protagonistin tritt einerseits in detailbesessenen Beschreibungen ganz hinter das Beobachtete zurück, mit den Reflexionen über ihre Wahrnehmung und den ambivalenten Empfindungen, die sie immer wieder auslösen, ist sie zugleich mittendrin. Nur ist dieses Räsonnement nicht mehr die Weltdeutung einer allwissenden Erzählhaltung, sondern selbst geplagt vom Geschehen, seinen Deutungen und Missdeutungen. Es pflanzt sich fort über Assoziationssprünge, Verdrängtes, bewusste Auslassungen, um dann doch nach einigen Tagen oder Wochen zur Wahrheitspflicht zurückzukehren. Eine literarische "talking cure": Wo Es ist, soll viermal Ich werden.

Bis unter die Haut

Der Blick der Erzählerin auf ihr Umfeld ist alles andere als diskret, vielmehr besitzergreifend bis in die Poren. Er geht bisweilen regelrecht unter die Haut, bis die Projektion mit dem beobachtenden Selbst verschwimmt zu ebendiesem Mehrfach-Ich. Narzisstische Objektbesetzung? Bei Grete sicherlich. Die blasse, verträumte Professorentochter mit dem weichen Flaum im Nacken unter dem Haaransatz, bei der selbst die Zähne durchsichtig scheinen, wird zunächst ihr Idol. Die Kränkung, dass diese sich im Jahr darauf eine Bank weiter setzt, wird ein Leben lang Rivalität unter die Bewunderung mischen.

Die antriebslose Schönheit kann das Versprechen ihrer Bildungschancen nicht realisieren und begibt sich mit einem Assistenten des Vaters in eine beiderseits freudlose Versorgungsehe. Mit ihrem Mann wird die Erzählerin ein Verhältnis haben. Das hat nichts mit Betrug zu tun oder Ausspannen, eher mit einem beiderseits orientierungslosen Umherschweifen. Die Werte der bürgerlichen Gesellschaft haben keinen Bestand mehr, und neue Regeln sind im Detail noch nicht gefunden. Am Ende bleibt die Gefährdungserfahrung einer notgedrungen illegalen Abtreibung.

Anette, die mit den damals etwas dünnen Beinen, fliegt kurz vor der Matura von der Schule, wegen der Affäre um eine offenbar gestohlene goldene Uhr. Dabei sollte es die Tochter einer alleinerziehenden Friseurin einmal besser haben, "selbständig werden", wie die Mutter meint, in der Lebenshaltung nicht abhängig sein von der Gunst eines Mannes.

Pragmatische Härte

Ulla mit den "Eiswasseraugen" ist die Intelligenteste, Zielstrebigste im Quartett. Die Tochter eines jüdischen Armenarztes wird selbst Medizinerin. Bei aller beschriebenen Distanziertheit wird sie der Erzählerin immer wieder zum verlässlichsten Mit-Ich. Weniger antiautoritäre Rebellin, wie diese, als früh mit einer Form von revolutionärer Disziplin ausgestattet, geht Ulla alles im Leben vollkommen rational an. Und selbst gegen den bedauerten Umstand sexueller Unerfahrenheit verordnet sie sich gleichsam auf Rezept einen vertrauten Genossen aus der Sozialistischen Jugend. Diese pragmatische Härte, die der Erzählerin so viele Rätsel aufgibt, bringt sie nach dem Schock darüber, dass ihr Vater in Haft kommt, weil er Frauen mit ungewollter Schwangerschaft half, wieder in die Bahn. Verbissen und strebsam ordnet sie sich als angehende Ärztin ein in die Hierarchie der klinischen Halbgötter, wo Frauen bislang allenfalls mit dem Tupfer zur Hand sein durften.

Was erfährt man eigentlich über die Erzählerin? Wenn man ihr und ihrem beständigen Schatten nachgeht, landet man bei feinen Leuten. Welchen, die es geschafft haben oder zumindest daran glauben. Es ist die Welt des Wiener assimilierten jüdischen Bürgertums, das sich mit Bildung, wirtschaftlichem Erfolg und möglicherweise mit dem Übertritt zum Katholizismus endlich angekommen wähnte in der aufgeklärten Staatlichkeit der Habsburgermonarchie. Die junge Maria Lazar misstraut früh diesem Emanzipationsversprechen der Assimilation ihrer eigenen Familie. Die Vergiftung, ihr erfolgreiches Debüt 1920, ist noch eine Abrechnung mit deren frommen Lügen im expressionistischen Furor. Viermal ICH betrachtet das Familienbild schon mit größerer Empathie und einer neuen Ambivalenz. Die, die lügen, belügen vor allem sich selbst.

Der "Familienroman" in Lazars Romanen aber variiert um eine fixe Grundkonstellation. Der freundliche, meistens abwesende Vater ist Bankier, die Mutter pocht in der Familie auf Normen, an die sie selbst nicht mehr glaubt. Geschwister nehmen eher konventionelle Wege. Meist gibt es einen nonkonformistischen Lieblingsonkel. Man hat Dienstboten, da holen sich die Kinder die emotionale Nähe, die sie bei den Eltern nicht finden. Maria Lazar selbst emanzipiert sich früh von diesem Milieu, wird Schriftstellerin, Sozialistin, schreibt für linksliberale Blätter und die ArbeiterZeitung, heiratet Friedrich Strindberg, den Sohn von Frank Wedekind und Frida Strindberg. Der schwedische Pass verschafft ihr und ihrer Tochter Judith später sicheres Exil.

Maria Lazar, "Viermal ICH". € 25,– / 224 Seiten. DVB-Verlag, Wien 2023.

Frauen als Katalysatoren

Viermal ICH ist nicht allein der kühnen erzählerischen Form wegen heute noch immer ein gewinnendes Buch. Nach fast hundert Jahren hat diese Stimme eines First-Wave-Feminismus ihre Verve nicht verloren, mit der sie die Frauenfrage, körperliche Integrität und reproduktive Rechte in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Auseinandersetzung stellt. Angesichts eines gegenwärtigen Rollbacks der Männerbünde von rechts ist das Buch ebenso eine Wohltat wie gegenüber dem fortgesetzten Partikularismus von Identitätspolitiken und der Selbstmarginalisierung eines Differenzfeminismus.

Ende der 1920er-Jahre suchte Maria Lazar für Viermal ICH vergeblich einen deutschsprachigen Verlag. Eine jüdische Autorin, die etwas zu sagen hatte, war auf dem Buchmarkt schon nicht mehr opportun. Sie emigrierte schon 1933 nach Dänemark – für die Identitätsmuster, die man sich am Beginn der Zweiten Republik über deren Vorgeschichte zurechtgelegt hat, ist das ein paar Jahre zu früh. Gemeinsam mit der befreundeten dänischen Schriftstellerin Karin Michaëlis verhalf sie Bert Brecht und Helene Weigel zur Svenborger Exilstation. Sie publiziert in dänischer Sprache, flieht nach der deutschen Besetzung weiter nach Stockholm. 1948 beendet sie von einer chronischen Krankheit schwer beeinträchtigt dort ihr Leben selbst. Als Feministin, Jüdin und einstige revolutionäre Sozialistin hatte sie alles verloren, was ihr einmal Heimat war.

Vergessener Erfolg

Wie aber konnte die "Dame mit Papagei", die schon als Mittzwanzigerin im literarischen Wien gefeierte Maria Lazar, derart in Vergessenheit geraten? Ihre Biografie könnte ein Kompendium bedeutender Persönlichkeiten seit der Jahrhundertwende bilden. Sie förderte den jungen Elias Canetti, unterstützte Hermann Broch im Kontakt zu seinem deutschen Verlag, Robert Musil lobte ihr Buch, und selbst die Ablehnung von Thomas Mann war ihr eine Auszeichnung. Ein blinder Fleck der Betrachtung macht Frauen offenbar immer noch eher zu Katalysatoren in künstlerischen Prozessen, statt dass sie als Akteurinnen wahrgenommen würden. Hatte sich im Kunst- und Literaturbetrieb der Nachkriegszeit ein aus männlicher Subjektivität begründeter Geniebegriff zur Unzeit wieder eingeschlichen, mit dessen Dekonstruktion wir uns bis heute plagen?

Maria Lazars Bücher werden verlegt, ihre Stücke kommen in die Theater, ihre Lyrik weckt Interesse. Dank ihres umtriebigen jungen Wiener Verlegers Albert Eibl gewinnt sie eine breite Leserschaft auch jenseits der Seminare für Exilliteratur. Andererseits musste die Wiederentdeckung einer Autorin von der Qualität Maria Lazars zum Erfolg mit Ansage werden in einem Buchmarkt, in dem zwei Drittel weiblicher Leserschaft Verlagsprogrammen gegenüberstehen, die von Männern mit "großen Namen" dominiert werden. Was noch aussteht, ist die Entdeckung einer brillanten politischen Journalistin und Essayistin in den Jahren der Ersten Republik. Sie lehrt, dass reaktionäres Denken nicht erst dann toxisch wird, wenn Nazis es angreifen. (Uwe Mattheiß, 27.8.2023)