Peter Henisch
Subversive Beziehungen, die in der einen oder anderen Art zur inneren oder äußeren Befreiung führen: Peter Henisch.
Heribert Corn

Zu seinem Siebziger im Jahr 2013 präsentierte Peter Henisch seinen Italienroman Mortimer & Miss Molly, in dem ein amerikanischer Flieger nach seinem Absturz vor den deutschen Besatzern versteckt werden muss. Zu seinem achtzigsten Geburtstag, den Henisch diesen Sonntag feiert, erscheint sein Roman Nichts als Himmel, in dem ein afrikanischer Migrant übers Dach derselben Wohnung kommend in San Vito auftaucht, die Julia und Marco, das inzwischen etwas ältere Liebespaar aus Mortimer & Miss Molly, ihrem Freund Paul Spielmann für einige Zeit zur Verfügung gestellt haben. Eine Wohnung in einem kleinen Ort in der Toskana – auf der Terrasse ist man auf Augenhöhe mit den Dächern.

Paul Spielmann ist ein Name, der aus zwei weiteren Büchern des Autors bekannt ist. Er ist Henischs Spielfigur, die er in Situationen bringt, die er sich selbst erspart. In Eine sehr kleine Frau ist Spielmann ein Literaturwissenschafter, in Siebeneinhalb Leben ein Autor, im neuen Roman ist er ein Musiker. Er hat als vielversprechender Liedermacher begonnen, war dann Musiklehrer an einem Gymnasium und hat im Alter von 55 Jahren seinen Beruf an der Schule aufgegeben. Seine Ehe ist gescheitert.

Blick durch die Kamera

Nun ist auch sein Comeback als Jazzer zunächst nicht erfolgreich. Der Auftritt wurde wegen Covid abgesagt. Um diese Frustration zu überwinden, braucht Spielmann Abstand, den er in Julias und Marcos Refugium zu gewinnen hofft. Der Roman beginnt als ein von Spielmann verfasster Bericht, geschrieben, als in der Toskana schon die Blätter von den Platanen fallen.

Er versucht, sich die Erlebnisse seit seiner Ankunft im Mai mit all ihren Details zu vergegenwärtigen. Obwohl der Roman chronologisch voranschreitet und mit der Fußball-Europameisterschaft und dem hastigen westlichen Abzug aus Afghanistan eindeutig auf den Sommer 2021 verweist, wird Spielmanns Erzählung durch diverse Einschübe unterbrochen. Darunter E-Mails an die unglücklich geliebte Julia und Evokationen des Blicks von der Terrasse, die sich manchmal beinah wie Gedichte lesen.

Nach einer Phase der Eingewöhnung im Frühling, in der ihm wiederholt seine Uhr abhandenkommt und "sein Zeitgefühl ein wenig entgleist", einer Phase, in der er ein San Vito kennenlernt, das sich recht deutlich von dem Ort unterscheidet, von dem ihm Julia erzählt hat, stabilisiert sich sein Zustand etwas.

Den Himmel Einfangen

Zur Musik findet er trotz des Klaviers in der Wohnung nicht zurück, er beginnt jedoch, sich die Umwelt durch den Blick durch Julias Kamera anzueignen. Vor allem den Himmel möchte er einfangen, und das scheint auch zu gelingen. "Die Fotos mit dem Regenbogen", mailt er an Julia, "waren gleich richtig."

Aber der Ort drei Stockwerke tiefer ist nicht mehr das, was er einmal war – Italien ist nicht mehr das, was es einmal war. Man ist im zweiten Covid-Sommer, die "epidemia di merda" hat Angst produziert. Zwar fällt die Maskenpflicht im Freien, aber das Leben ist nicht mehr so wie vorher. In den Zeitungen liest Spielmann Artikel über "überhandnehmende" Landungen von Flüchtlingsbooten und die hetzerischen Reaktionen rechter Politiker. Der gute Wille, die Gastfreundschaft Migranten gegenüber, wird denunziert. "Gutmenschen" werden immer kleinlauter, das Projekt des Bürgermeisters von Riace in Kalabrien, der in seinem halbverlassenen Ort Migranten angesiedelt hat, wird brutal gestoppt.

Abtransportiert

Die Flüchtlinge, die sich dort durch Renovierung verfallener Häuser ihr eigenes Heim geschaffen hätten, werden abtransportiert, der Bürgermeister wird unter dem Vorwurf von Korruption zugunsten der "clandestini", der "Illegalen", unter Hausarrest gesetzt. Schließlich wird er zu unfassbaren dreizehn Jahren Gefängnis verurteilt.

Ein wahrscheinlich von Matteo Salvini, dem Scharfmacher in Italiens Politszene, beeinflusstes Urteil, das im Café Tartaruga, benannt nach einer großen, machohaften Schildkröte, deren Gesichtsausdruck, wenn man genau hinsieht, jenem Mussolinis auf alten Fotos ähnelt, heftig diskutiert wird. Ein Schandurteil, finden die einen, aber andere neigen bereits dazu, dem Gericht, das damit offenbar ein Exempel statuieren will, recht zu geben.

Buchcover
Peter Henisch, "Nichts als Himmel". Roman. € 26,– / 256 Seiten. Residenz, Salzburg 2023
Residenz Verlag

Härterer Ton

Anlässlich eines Tagesausflugs nach Siena nähert sich Spielmann einem Platz, auf dem offenbar ein Soundcheck stattfindet. Vorerst hält er die Stimme, die da zu hören ist, für die von Gianna Nannini, doch die Frau, die dann zwar nicht singen, aber sehr suggestiv sprechen wird, ist Giorgia Meloni, die "nova" am Polithimmel: "Italien darf nicht Afrika werden."

Trotz aller Vorsicht infiziert sich Spielmann mit dem Coronavirus. Er hat Schwindelgefühle, bildet sich ein, ein seltsames Vibrieren vom Dach über seinem Bett zu hören, "als ob da jemand über meinen Kopf ginge, über meinen Kopf hinweg". Auf diesem Dach, das ihn schon von Anfang des Romans an fasziniert, aber auch irritiert hat. "Spontan der Gedanke, dass man auf diesen Dächern über den ganzen Ort gehen könnte ..." Die Faszination des Romans liegt nicht zuletzt in solchen Vorahnungen, die man liest, aber zuerst noch nicht einordnen kann. Spielmann fühlt, dass etwas geschehen wird, aber als es dann tatsächlich passiert, ist er überrumpelt. "Give me shelter", sagt der Migrant, der aus dem Gefängnis entflohen ist, und unterstreicht die Dringlichkeit seines Anliegens, indem er Spielmann eine Pistole vor die Nase hält. Abdallah, so heißt der Migrant, taucht weniger bittend auf als fordernd.

Von da an hat Spielmann einen Mitbewohner, dessen Anwesenheit von der Umgebung nicht bemerkt werden darf. Eine ambivalente Beziehung entwickelt sich, eine immer größere Nähe. Vorerst schläft Abdallah im kleinen Gästezimmer, aber als es Anfang Oktober kalt wird, schlüpft er mit der halbironisch wiederholten Bitte "Give me shelter" zu Spielmann ins Bett.

Flucht nach Deutschland

Abdallah, der traumatisierte Migrant, der seinen älteren Bruder auf der Flucht übers Mittelmeer sterben gesehen hat und Trost braucht. Da wundert sich Spielmann über seine eigene Reaktion: "Ich nahm ihn in den Arm. Ja, ich nahm ihn in den Arm."

Diese Beziehung kann nicht dauern. Ausgerechnet die alternative Bildhauerin Valeria, mit der Spielmann im Sommer ein kurzes Verhältnis gehabt hat, entführt ihm Abdallah, riskiert es, den Migranten im Kofferraum ihres Autos mitzunehmen. Das Ziel ist Deutschland, woher sie stammt. Der Ausgang des Abenteuers ist ungewiss. Am Tag der Abfahrt der beiden liest Spielmann in der Zeitung über verschärfte Grenzkontrollen: "Dem Schlepperwesen", zitiert Henisch den Artikel sarkastisch, "muss Einhalt geboten werden." Die schräg angespielten Liebesgeschichten in Peter Henischs Romanen, so habe ich zu seinem 70. Geburtstag geschrieben, enthalten "subversive Beziehungen", die auf die eine oder die andere Art zur Befreiung führen – der inneren und der äußeren. Dies immer mit dem Bewusstsein der politischen Umstände im Hintergrund.

Nun, zehn Jahre später, in Nichts als Himmel, hat sich, bei aller scheinbaren Milde des toskanischen Ambiente, der Blick für die zentralen Probleme unserer Zeit noch geschärft. Der Roman fügt sich in Henischs breites literarisches Œuvre und zeigt dennoch einen neuen, härteren Ton. (Walter Grünzweig, 27.8.2023)