Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison.
1993 wurde der US-Amerikanerin als erster schwarzer Autorin der Literaturnobelpreis zuerkannt.
Michael Lionstar

Die schmale, nur vierzig Seiten umfassende Erzählung Rezitativ von Toni Morrison (1931–2019) handelt von zwei Freundinnen ungleicher Hautfarbe, und wir erfahren nie, welche von ihnen weiß und welche schwarz ist. Schon nach wenigen Zeilen fällt der entscheidende Satz eher beiläufig, eines der Mädchen sei "von ganz anderer Hautfarbe". Nur eben welche? Und vor allem, welche Hautfarbe ist die eigentliche, welche die andere?

Die Antworten darauf existieren nicht. Die Leserschaft bleibt mit den rassifizierenden Codes allein und beginnt die Zeichen ab sofort den Figuren zuzuordnen. Ist der Name Roberta eher "schwarz" als der Name Twyla? Und zu wem passen Haare, die "voll und wild" sind?

Das 1983 im englischen Original als Recitatif erschienene Erzählung liegt nun erstmals in deutscher Übersetzung (von Tanja Handels) vor. Warum es vierzig Jahre dauern musste, bis dieser geniale Text dem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht wurde, bleibt ein Rätsel. Ein großes Versäumnis. Hat man gedacht, Fragen von Hautfarbe beträfen den Rassismus der mitteleuropäischen Gesellschaft zu wenig? Ein Irrtum.

Raffiniertes Rätselspiel

Morrison, der 1993 als erster schwarzer Autorin der Literaturnobelpreis zuerkannt wurde und deren Werk auf entscheidende Weise die Perspektive schwarzer Leben in den Literaturkanon einbrachte, zeichnet in Rezitativ die biografische Entwicklung der beiden Mädchen mit zwei Zeitsprüngen bis ins Erwachsenenalter nach – und wirft in diesem Rätselspiel alle deutbaren Signale über den Haufen.

Twyla und Roberta lernen sich als Achtjährige im Kinderheim kennen. Warum sie außerfamiliärer Fürsorge bedürfen, erfahren wir nicht genau. Aber im allerersten Satz heißt es: "Meine Mutter tanzte die ganze Nacht, und die von Roberta war krank." Twyla ist also die Ich-Erzählerin. Ist sie deshalb vielleicht schwarz, weil auch die Autorin Morrison schwarz war?

Wem ordnet man welche Ernährungsgewohnheiten zu? Welchen Musikgeschmack (Jimi Hendrix), welche Wohnsituation, welche Mode? Twylas Mutter trägt eine grüne Hose, "in der ihr Hintern vorstand", und eine Pelzjacke mit löchrigem Futter. Robertas Mutter ist sehr groß, hat unterm Arm eine dicke Bibel eingezwickt, und über ihrer Brust baumelt ein riesiges Kreuz. Wer denkt, die Figuren identifiziert zu haben, wird auf der folgenden Seite schon wieder verunsichert.

Buchcover
Die nun erschienene deutsche Übersetzung von "Rezitativ" wird mit einem Nachwort von Zadie Smith ergänzt.
Rowohlt Verlag

Parallele Biografien

Im Buchtitel selbst deklariert Morrison ihre "Methode". Rezitativ, abgeleitet vom lateinischen Verb "recitare", bedeutet Vortrag bzw. "einen Text deutlich und unter Berücksichtigung des Sinn- und Ausdrucksgehalts" vortragen. Die Autorin betrachtet sich also als Arrangeurin von vorgefertigten Sinnangeboten, die sich allerdings – und das ist das Raffinement dieses Textes – ständig selbst überrumpeln. Denn obwohl man von Anfang an den alles entscheidenden Unterschied der beiden Figuren auszumachen versucht, gibt es ihn nicht zu finden.

Morrison – deren Romandebüt Sehr blaue Augen im Rahmen der bemerkenswerten Wiener Gratisbuchaktion "Eine Stadt ein Buch" 2006 in einer Auflage von 100.000 Stück verteilt wurde – fokussiert auf drei Lebensabschnitte der Frauen: Auf das Kindheitsalter folgen die späten Teeniejahre und noch einmal später das gesettelte Erwachsenenalter. Inwiefern sind Roberta und Twyla aktive Bürgerinnen, welche berufliche Laufbahn schlagen sie ein, welche Familien gründen sie?

Wertvolle Ergänzung

Über all dem steht noch eine andere Frage, die das Buch in seinen gesellschaftspolitischen Anliegen entscheidend weitet. Twyla und Roberta haben einst im Heim einen Vorfall erlebt, den sie beide unterschiedlich erinnern. Es geht um die Küchengehilfin Maggie, die eines Handicaps und ihrer niedrigen sozialen Stellung wegen immer wieder von den Kindern attackiert wurde. Maggie konnte sich nicht wehren. Sie wird von den Heimkindern zum Fremdkörper deklariert, wird abgewertet, zu ihr nimmt man Abstand.

Diese Grenzziehung zu anderen Menschen aus eigener Überheblichkeit bleibt ein vielsagender Bezugspunkt in den beiden Frauenbiografien. Morrisons Buch fragt, wie und unter welchen Umständen die Gesellschaft "Niemande" macht, und es endet nach diesen dichten und zugleich leichthändigen Seiten mit der Wucht eines fetten Romans.

Doppelt wertvoll wird diese Neuerscheinung durch das ausführliche Nachwort von Morrisons britischer Kollegin Zadie Smith, das den Wert und Gehalt der Erzählung in Form eines essayistischen Anmerkungsapparats ergänzt. Man kann beides zusammen nur Pflichtlektüre nennen. (Margarete Affenzeller, 28.8.2023)