Literatur Graz Avantgarde Ritter Verlag
Besetzt die Leerstelle seiner selbst nach eigenem Gutdünken: Günter Eichberger neben Richard Gerstls "Selbstporträt, lachend" (1907).
Anna Ertl

Zur eigenen Physiognomie hat Günter Eichberger schon als junger Autobiograf das letzte Wort gesprochen. Ausgeborgt hat es sich der Grazer Erzähler beim Philosophen Michel Foucault. Der stellte einmal fest: Wie am Meeresufer ein Gesicht aus Sand, so werde eines Tages das verschwinden, was man heute "den Menschen" nennt.

Tatsächlich trug Eichbergers Prosadebüt beim Klagenfurter Ritter-Verlag den Titel Gesicht aus Sand (1999). Prompt wies es "klassische" Merkmale einer Autobiografie auf: in Maßen verdrießlich, gerade so weit beengend, dass aus einem Steirer aus Oberzeiring ein Satiriker von Rang werden konnte. Fortan ist Eichberger (63) nicht müde geworden, sich als Erzähler seiner selbst, aber auch als Kolporteur aller übrigen Weltverhältnisse für unzuständig zu erklären.

Vater und Mutter hätten im Grunde gar nicht gewusst, was sie taten, als sie ihn zeugten. "Ich glaube, meine Mutter war nicht ganz bei der Sache. Und mein Vater gar nicht anwesend." Wenigstens hat Laurence Sterne, Autor des Tristram Shandy, Klein-Eichberger anmutig über die Schulter geblinzelt. Eichberger bildet nicht ab. Er schafft höchstens "Bewusstseinsporträts". Er mimt dann den Patienten – und ist zugleich sein eigener Arzt. Doch statt den Eid des Hippokrates zu schwören, folgt er Empfehlungen der Gehirnforschung. Oder er wälzt die Theoreme, die Oswald Wiener in seiner verbesserung von mitteleuropa. roman in den 1960ern dargestellt – und anschließend dem Hohn der Erkenntniskritik ausgesetzt hat.

Treuherziges Erzählen ist Eichbergers Sache nie gewesen. Er gehört daher, trotz kolossaler Befähigung zur gehobenen Blödelei, zu den Erscheinungen am äußersten Rand des heimischen Literaturbetriebs. Der Postbeamtensohn simuliert nur, was andere vorgeben zu tun, ohne vor Scham im Erdboden zu versinken: die Wirklichkeit wiederzugeben.

Stillagen wie Hemden

Eichberger gebraucht Sätze aus der Wissenschaft. Er prüft, ob sie, über die jeweilige Anwendung hinaus, Erzählwert besitzen. Der heute in Graz lebende Dichter (und Gastro-Kritiker!) wechselt die Stillagen wie andere das Hemd. Erheiternde Szenen entstehen, wenn er über den konventionellen Gehalt von Satzaussagen hinausgreift. Er schreibt dann: "Ich dehnte meine Vorstellungen aus, bis sie in Einzelteile zerbrachen, die Bestandteile meiner Welt." Oder: "Ich bin eine Leerstelle, die ich nach meinem Gutdünken besetze."

Schreibt Eichberger einen Thriller wie Wimperntierchen (2015), dann ähnelt das Werk einem Experimentalfilm, den Peter Kubelka nach einem Drehbuch von Jean-Luc Godard gedreht haben könnte. In diesem sind selbst Einzeller empfindsame Wesen. Vor allem nimmt Eichberger das Blubbern aus allen Medienkanälen aufs Korn: die Manie so vieler, sich ohne Unterlass, ohne Strukturierung des zugrunde liegenden Bewusstseins zu verlautbaren.

Eichberger findet für sein Dichten Sätze der Entschuldigung: "Meine Gedanken kommen von allein. Es hilft nichts zu behaupten, meine Gedanken seien nicht von mir, auch wenn sich mir manchmal dieser Eindruck aufdrängt."

Im aktuellen Buch Weltverlust zählt sein Autor auf, wie sich die Größten der Dichtkunst in der Vergangenheit zu stärken pflegten: "Sartre trank Blut, das man Camus heimlich abgezapft hatte. Camus kurierte sich mit Eigenurin, der ihm allerdings regelmäßig ausging, weshalb er auf Simone de Beauvoirs Reserven angewiesen war." Charakteristischer Nachsatz Eichbergers: "Ich esse ein Joghurt, zwei Scheiben Vollkornbrot mit Käse und trinke dazu eine Tasse Earl Grey." Potenzielle Eichberger-Leser können heute auf elf Titel bei Ritter zurückgreifen. Niemand anderer entlarvt die Unzulänglichkeiten menschlichen Verstehens köstlicher.

Nur keine Trübsal

Eichberger: "Die wichtigste Inspiration der letzten Jahre war für mich die Neurobiologie, vor allem das Buch Das Gehirn und seine Wirklichkeit von Gerhard Roth." Was wir wahrnehmen, sei eine Konstruktion unseres Hirns, die uns durch die Nervenzellen übermittelt wird. Das Gehirn ist der Vereinzelung preisgegeben: kein Anschluss unter diesen grauen Zellen.

Das alles sei kein Grund zur Verzweiflung, so Eichberger: "Ich bin ein Gefangener und Wärter des Literaturbetriebs. Ich betrachte von außen meine klägliche Kleinunternehmerexistenz, die von der öffentlichen Hand gefüttert wird." Und: "In intensiven Arbeitsphasen berühren mich die Widersprüche zwischen Verbalradikalismus und Abhängigkeit von der staatlichen Gießkanne nicht wirklich." Fließt aus dieser doch gelegentlich aromatischer Earl Grey. (Ronald Pohl, 29.8.2023)