Während das arktische Meereis durch den Klimawandel weiter vor sich hin schmilzt, sind die dadurch ausgelösten Folgen auf die Natur und Tierwelt erst ansatzweise absehbar. Problematisch wird es vor allem dann, wenn die Basis der Nahrungspyramide betroffen ist. Entsprechend bedenklich sind die Ergebnisse, die nun ein internationales Forscherteam unter Leitung des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) in Bremerhaven vorgestellt hat: Seiner Studie zufolge sind durch den Meereisschwund auch die Planktonbestände gefährdet, was die Nahrungsketten der gesamten Region empfindlich stören würde. Möglich erschienen "fatale Auswirkungen auf das ganze Ökosystem bis hin zu Robben, Walen und Eisbären", erklärte das AWI am Montag.

Themisto libellula ist eine Flohkrebsart, die auch in arktischen Gewässern vorkommt. Bleiben dieses Tierchen und seine Kolleginnen und Kollegen aus dem Zooplankton durch den Klimawandel tiefer unter der Meeresoberfläche, hat das Folgen für die gesamte Nahrungspyramide.
Foto: Alfred Wegener Institute / Barbara Niehoff

Dünneres Eis lässt mehr Licht durch

Das Team um Hauke Flores vom AWI widmete sich in einer im Fachjournal "Nature Climate Change" erschienenen Untersuchung den zuvor teils noch wenig erforschten Wechselwirkungen zwischen dem sogenannten Zooplankton und den Umweltbedingungen unter dem Eis der Arktis. Das Zooplankton besteht aus winzigen Krebstierchen, die sich vertikal durch die Wassersäule bewegen. Sie leben dort in gewaltigen Mengen und stellen eine wichtige Nahrungsbasis dar.

In welcher Meerestiefe sich die Tiere aufhalten, hängt dabei wesentlich von den Lichtverhältnissen ab, weil die Tiere eine Art Dämmerung bevorzugen, in der sie vor Fressfeinden sicherer sind. Hier kommt nach Erkenntnissen des AWI der Meereisrückgang durch den Klimawandel ins Spiel: Je dünner die Eisschicht wird, desto heller wird es im Wasser. Das Zooplankton wird daher in Zukunft immer größere Teile des Jahres in größeren Wassertiefen bleiben.

Kritische Schwelle

In einem Observatorium unter dem Meereis identifizierten AWI-Experten bei einer Polarexpedition zunächst die kritische Schwelle der Lichtintensität im Wasser, unter der sich Zooplankton aufhält. Diese Daten integrierten sie in Computermodelle, welche die Eisentwicklung bei unterschiedlichen Klimaszenarien bis 2050 simulieren. Demnach ist zu erwarten, dass die Tierchen wegen des dünneren Eises künftig im Herbst bei zunehmender Eisbildung später nach oben steigen – und im Frühjahr mit rückläufiger Eisbedeckung früher hinabsinken.

Problematisch ist dies nach Ansicht der Forschenden, weil sich das Zooplankton von kleinen Algen ernährt, die sich im Polarwinter unter dem dichten Meereis bilden. Fällt das Algenwachstum wegen der niedrigeren Eisdicke insgesamt geringer aus, und steigen die Tiere wegen der zunehmenden Helligkeit außerdem später auf und früher ab, droht ihnen Nahrungsmangel. Die Überlebenschancen des arktischen Zooplanktons könnten sich den Forschern zufolge also "weiter verschlechtern".

"Besonders für die obersten 20 Meter der Wassersäule, direkt unter dem Meereis, gab es bisher keine Daten über das Zooplankton", erklärte Flores. "Aber gerade dieser schwer zugängliche Bereich ist am interessantesten, denn dort, direkt unter dem Eis, wachsen die Mikroalgen, von denen sich das Zooplankton ernährt."

Meereis, Zooplankton, Klimawandel
Forschende installierten im September 2020 Bojen auf einer Eisscholle im zentralen Arktischen Ozean. Die Bojen messen als autonomes biophysikalisches Observatorium unter anderem das Aufkommen von Zooplankton.
Foto: Alfred Wegener Institut / Folke Mehrtens

Jedes Zehntel Grad von Bedeutung

"Anhand unserer Messwerte haben wir eine extrem niedrige kritische Bestrahlungsstärke für das Zooplankton ermittelt: 0,00024 Watt pro Quadratmeter", sagt der AWI-Forscher. "Diesen Parameter haben wir dann in unsere Computermodelle zur Simulation des Meereissystems eingegeben. So konnten wir für eine Reihe von Klimaszenarien projizieren, wie sich die Tiefe dieses Strahlungsniveaus bis zur Mitte dieses Jahrhunderts verändern würde, wenn das Meereis aufgrund des Klimawandels immer dünner wird."

Was die Experten herausfanden: Durch die stetig abnehmende Eisdicke würde die kritische Bestrahlungsstärke immer früher im Jahr in größere Tiefen sinken und erst immer später im Jahr wieder in die Oberflächenschicht zurückkehren. Da sich das Zooplankton grundsätzlich in Gewässern unterhalb dieses kritischen Werts aufhält, würden seine Bewegungen diese Veränderung widerspiegeln. Dementsprechend bleiben sie in diesen Zukunftsszenarien immer länger in größeren Tiefen, während ihre Zeit in Oberflächennähe unter dem Eis im Winter immer kürzer wird.

Die Folgen könnten aufgrund der Bedeutung des Zooplanktons in der arktischen Nahrungskette wiederum Fische und letztlich Säugetiere wie Eisbären und Wale treffen. Bei einer Begrenzung der Erderwärmung auf eineinhalb Grad Celsius falle die Verschiebung der Planktonbewegung allerdings wesentlich geringer aus als bei ungebremstem Klimawandel, erklärte Flores. Für das arktische Ökosystem sei am Ende "jedes Zehntel Grad weniger menschengemachte Erwärmung von entscheidender Bedeutung". (tberg, red, APA, 29.8.2023)