Im Korallenriff vor Key West in Florida wurde im Juli ein neuer Rekordwert gemessen: Über mehrere Stunden hinweg erreichte das Wasser eine Temperatur von 37,8 Grad.
AFP/JOSEPH PREZIOSO

Der Meeresspiegel steigt, Strömungen werden schwächer, Ökosysteme brechen zusammen. In den Ozeanen sind massive Veränderungen im Gange – mit teils offenem Ergebnis. Der Ozeanograf und Meteorologe Mojib Latif erforscht diese seit Jahrzehnten. Heute leitet er die Forschungseinheit Maritime Meteorologie am Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel. Im Interview erklärt Latif, warum genau jetzt neue Hitzerekorde in den Meeren gemessen werden – und was es für Europa bedeuten könnte, wenn die Atlantische Umwälzströmung langsamer wird.

STANDARD: Die Meere werden immer wärmer. Welche Rolle spielen sie im Klimasystem?

Latif: Die Ozeane sind ein ganz wichtiger Teil dieses Systems – und ihre Temperatur ist ein besserer Indikator für die Erderhitzung als die Lufttemperatur. Sie nimmt langsamer, aber kontinuierlicher zu. Auch nehmen die Meere über 90 Prozent der Wärme auf, die durch den Anstieg der Treibhausgase in der Atmosphäre verursacht wird.

STANDARD: In den vergangenen Monaten sehen wir extreme Werte. Warum gerade jetzt?

Latif: Die kurzfristigen natürlichen Schwankungen überlagern die langfristige Erwärmung, die durch uns Menschen verursacht ist. Wenn die natürlichen Schwankungen gerade in dieselbe Richtung zeigen wie die menschengemachte Erwärmung, dann kommt es zu neuen Rekorden.

STANDARD: So wie heute das El-Niño-Phänomen ...

Latif: Genau, El Niño ist ein Klimaphänomen, das alle paar Jahre auftaucht. Es erwärmt den äquatorialen Pazifik um mehrere Grad und wird jetzt noch ein knappes Jahr anhalten.

STANDARD: Welche Folgen hat die Erhitzung?

Latif: Die Ökosysteme leiden massiv, etwa müssen wir damit rechnen, dass es in einigen Jahrzehnten keine Korallen mehr gibt. Ein weiterer Faktor ist die Erwärmung bis in weite Tiefen. Damit dehnt sich das Wasser aus – der Meeresspiegel steigt. Und auch die Strömungen verändern sich. An Land hat die Erhitzung ebenfalls Folgen: Je wärmer es ist, desto mehr Wasser verdunstet. Je nach Wetterlage fällt dann mehr Regen auf einmal.

STANDARD: Es heißt auch, dass die Meere deutlich weniger Sauerstoff aufnehmen werden.

Latif: Wie wir Menschen auch brauchen Meereslebewesen Sauerstoff. Es gibt bereits heute einige Regionen in den Ozeanen, in denen es nur ganz wenig Sauerstoff gibt. Das sind Todeszonen, wo kaum Leben existieren kann. In den letzten Jahrzehnten haben sich diese Gebiete weiter ausgedehnt. Ein Grund ist, dass sich Strömungen verändern. Fallen sie weg, dann fehlt die Sauerstoffzufuhr.

STANDARD: Bislang absorbieren die Meere jährlich ein Viertel unserer CO2-Emissionen. Damit werden sie immer saurer. Was bedeutet das?

Latif: Wir haben in der Schule gelernt, was passiert, wenn wir CO2 in Wasser mischen. Wir bekommen Kohlensäure. Für Lebewesen im Meer ist das ein großes Problem. Besonders betroffen sind Korallen, Krebse oder Muscheln, weil sie Kalkstrukturen aufbauen müssen. Je saurer das Wasser wird, desto schlechter funktioniert das.

STANDARD: Deshalb lässt sich Kalk in der Küche oder im Bad auch am besten mit Essig entfernen.

Latif: So ist es. Essig ist ebenfalls sauer und insofern kann man sich sehr gut vorstellen, was ein höherer Säuregehalt bedeutet. Da tickt wirklich eine Zeitbombe. Selbst wenn es die Erwärmung nicht gäbe, schon die Versauerung an sich ist ein Desaster.

STANDARD: Wann ist der Punkt erreicht, an dem die Ozeane weniger CO2 aufnehmen?

Latif: Vermutlich ist dieser Punkt schon erreicht. Je wärmer es wird, desto schlechter löst sich CO2 tendenziell im Wasser. Wichtig ist auch der biologische Weg. Wenn marine Lebewesen gestresst werden, besteht die Gefahr, dass auch über die biologische Pumpe weniger CO2 in die Tiefe transportiert wird.

Mojib Latifleitet die Forschungseinheit Maritime Meteorologie am Geomar-Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel.
IMAGO/Jürgen Heinrich

STANDARD: Die Ozeane sind weiterhin recht schlecht erforscht, warum ist das so?

Latif: Für die Atmosphäre haben wir für die Wettervorhersage schon seit Jahrzehnten Messungen überall auf der Erde. Das ermöglicht es uns, langfristige Trends zu bestimmen. Im Ozean hatten wir bis vor einigen Jahrzehnten nur punktuelle Messungen, zum Beispiel über die Handelsschifffahrt, die vereinzelt Messungen gemacht hat. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts ist die Datenlage extrem dünn, vor allem in der Tiefe. Die Entwicklungen dort sind besonders wichtig für marine Ökosysteme und die langfristige Klimaentwicklung. Um Daten zu sammeln, verwenden wir heute autonome Messsysteme. Die sehen zum Beispiel aus wie kleine Torpedos, die in den Weltmeeren umher schwimmen und ab und zu an die Oberfläche kommen, ihre Daten an Satelliten abgeben und dann wieder in die Tiefe abtauchen. Für die Meeresoberfläche sind aufgrund von Satellitenmessungen die Daten besser.

STANDARD: Meeresströmungen beeinflussen das Klima stark, etwa die Atlantische Umwälzströmung. Sie hält Europa warm, jetzt droht sie zusammenzubrechen. Warum?

Latif: Dieses ozeanische Förderband wird in der Nordpolarregion angetrieben, zwischen Grönland und Schottland. Dort sinken schwere Wassermassen in große Tiefen ab, zum Teil auf 4000 Meter. Das sind gigantische Wasserfälle, so muss man sich das vorstellen. Sie sind der Antrieb für die Umwälzbewegung. Das Wasser fließt dann in großen Tiefen Richtung Äquator. Weiter oben strömt wärmeres Wasser nach Norden. Das Problem ist jetzt, dass das Wasser im Norden deshalb so schwer ist, weil es sowohl sehr kalt als auch salzhaltig ist.

STANDARD: Und die Erderhitzung führt dazu, dass beides weniger wird ...

Latif: Genau. Das Wasser sinkt immer schlechter ab. Einerseits erwärmt es sich, auf der anderen Seite schmilzt Eis vom grönländischen Eispanzer. Dann sinkt der Salzgehalt.

STANDARD: Angenommen, die Strömung kommt zum Halt. Was bedeutet das für Europa?

Latif: Das hängt davon ab, bei welcher Klimaerwärmung sie zusammenbricht. Je geringer die Erwärmung zu diesem Zeitpunkt ist, desto mehr würde die Abkühlung gegenüber der Erwärmung in Europa durchschlagen. Im globalen Mittel gebe es aber trotzdem eine massive Erwärmung. Es gibt auch weitere Auswirkungen. Der Meeresspiegel würde im Nordatlantik viel stärker steigen als im globalen Schnitt, weil die kalten Wassermassen nicht mehr so stark absinken. Der Anstieg würde wohl um 50 Zentimeter bis zu einen Meter über dem globalen Durchschnitt liegen.

STANDARD: Von welchem Zeithorizont sprechen wir?

Latif: Das ist die große Unbekannte. Möglicherweise von wenigen Jahrzehnten, möglicherweise von einigen Jahrhunderten. Vielleicht passiert es auch gar nicht. Wir stellen mit unserem Planeten ein gigantisches Experiment an. Das ist ein wahnsinniges Risiko.

STANDARD: Es heißt, dass sich die Mittelmeerregion besonders schnell erwärmt. Welche Folgen hat das?

Latif: Das Mittelmeer ist schon massiv erwärmt. Das hat vermutlich auch bereits Auswirkungen auf unser Wetter weiter nördlich. Das wärmere Wasser verdunstet stärker. Mittelmeertiefs haben dann auch mehr Wasser im Gepäck. Das ist ein Faktor, warum wir gerade im östlichen Europa und in der Alpenregion immer extremere Niederschläge sehen.

STANDARD: Düstere Aussichten. Welche Möglichkeiten gibt es, die Ozeane besser zu schützen?

Latif: Das Allerwichtigste ist, dass die Emissionen gestoppt werden. Neben dem Klimaschutz muss die Welt ein Versprechen einlösen, das sie im globalen Artenschutzabkommen gemacht hat. Nämlich dass 30 Prozent der Meere bis 2030 geschützt werden. Dort darf es dann wirklich keine menschlichen Eingriffe mehr geben, keine Fischerei, kein Abbau von Rohstoffen. Aber bislang sind das Absichtserklärungen. Was am Ende passiert, ist wohl eine andere Sache. Ich wäre jedenfalls der Erste, der laut Hurra schreien würde, wenn diese neuen Schutzgebiete eingerichtet werden. (Alicia Prager, Philip Pramer, 30.08.2023)