Stahlproduktion
Der neue Chef der Produktionsgewerkschaft wird an seinem ersten Metallerabschluss gemessen werden.
APA/HANS KLAUS TECHT

Am 25. September beginnt die Herbstlohnrunde mit der Metallindustrie. Der neue Metallgewerkschaftschef Reinhold Binder wärmt sich schon einmal auf für die bisweilen quälend langen Verhandlungsrunden.

STANDARD: Sie waren viele Jahre der Organisationsreferent der Produktionsgewerkschaft. Was ist in dieser Hinsicht von Ihnen zu erwarten? Noch rascher Proteste und Streiks?

Binder: Nein. Der Zyklus der Eskalation ist abhängig von der Gesprächskultur am Verhandlungstisch. Davon hängt ab, wann das Verhandlungsteam nach harten und langen Verhandlungen die Belegschaften und Betriebsräte miteinbezieht. Das bestimmt den Rhythmus. Wir machen das ja für die Kollegen und Kolleginnen im Betrieb.

Reinhold Binder, Vorsitzender der Produktionsgewerkschaft Proge im ÖGB. 
Im Catamaran des ÖGB am Wiener Handelskai hat Reinhold Binder sein Büro.
© Christian Fischer

STANDARD: Im Vorjahr war das bereits nach der ersten echten Verhandlungsrunde. Im Licht der Inflationsentwicklung war der Abschluss im November 2024 dann vergleichsweise mickrige 7,44 Prozent (im Schnitt). Haben sich die Gewerkschaften verkalkuliert?

Binder: Definitiv nicht. Unter den damaligen Parametern war der Abschluss notwendig und richtig. Erst danach kamen die wirklich katastrophalen Monate November, Dezember, Jänner und Februar mit sehr hoher Inflation, die dazu führten, dass wir jetzt so eine hohe rollierende Inflationsrate haben.

Balkengrafik mit den Lohn- und Gehaltsabschlüssen der Metallindustrie von 2016 bis 2023
Lohn- und Gehaltsabschlüsse der Metallindustrie seit 2016
DER STANDARD

STANDARD: Auf welchen Wert kommen Sie jetzt seit August 2022?

Binder: Wir rechnen mit 9,6 Prozent rollierender Inflation.

STANDARD: Die Arbeitgeber klebten im Vorjahr relativ lang an der Kerninflation, also der Teuerung exklusive der importierten Energie- und Lebensmittelpreise. Es wird nicht einfacher, denn jetzt ist Deutschland, Österreichs wichtigster Absatzmarkt, offiziell in der Rezession. Müssen wir uns auf eine härtere Vorgangsweise einstellen?

Binder: Das hängt von der Gesprächsbasis ab. Fast jedes Jahr ziehen dunkle Wolken auf. Mir kommt vor, die Krisen werden geradezu herbeigeredet. Das ist problematisch, da wird der Standort schlechtgeredet. Es gibt viele Unterschiede zwischen Deutschland und Österreich. Wenn es tatsächlich so schlecht liefe, wie betont wird: Bei den Gewinnausschüttungen gibt es überhaupt keine Zurückhaltung.

STANDARD: Das ist aber ein verzerrtes Bild, es basiert auf ein paar börsennotierten Unternehmen. Die metalltechnische Industrie, also Maschinenbau und Metallverarbeitung, besteht aus Familienunternehmen, den tragenden Säulen der Wirtschaft.

Binder: Wir messen es an dem, was die Beschäftigten tagtäglich leisten. Es gibt einen Fachkräftemangel, das heißt, die Zahl der Arbeitnehmer ist reduziert. Und trotzdem werden die Aufträge abgearbeitet – im Schichtbetrieb sieben Tage die Woche rund um die Uhr. Unsere Leute machen einen wahnsinnigen Job! Eine Streckung der Betriebslaufzeiten ist gar nicht mehr möglich. Diese Leute brauchen jetzt eine g'scheite Lohnerhöhung.

 Reinhold Binder, Vorsitzender der Produktionsgewerkschaft Proge im ÖGB, in seinem Büro am Wiener Handelskai
Bisher hat Reinhold Binder als Organisationsreferent Versammlungen bis hin zum Arbeitskampf organisiert. Jetzt muss er die Verhandlungen mit den Industriebossen führen.
© Christian Fischer

STANDARD: Sie fürchten keinen Jobabbau, weil es ja an Fachkräften fehlt?

Binder: Überhaupt nicht. Diese Argumentation ist eigentlich schäbig. So geht man mit Dienstnehmern nicht um – nicht nur in der Lohngestaltung, sondern auch in der Arbeitszeitfrage. Das sind die beiden wichtigsten Komponenten.

STANDARD: Österreichische Arbeitskräfte sind bald teurer als jene in der deutschen Industrie. Viel Spielraum gibt es nicht mehr ...

Binder: Wir haben auf jeden Fall Spielraum. Lohndumping hat noch nie Arbeitsplätze gerettet. Sogar in harten Zeiten, wo alle mit der Teuerung kämpfen, kann Lohnraub nicht die Lösung sein. Deutschland ist kein gutes Beispiel, weil dort die kollektivvertragliche Abdeckung bereits unter 50 Prozent liegt, nicht bei 98 Prozent wie bei uns. Dadurch ging eklatant viel Kaufkraft verloren bei Arbeitnehmern und Pensionisten. Bei uns sind die preissenkenden Maßnahmen der Regierung nicht angekommen, die spürt man de facto nicht: Die Lebensmittelpreise sind um 23 Prozent gestiegen, die Mieten werden zum fünften Mal angehoben, wir sind schon bei 25 Prozent Erhöhung. Das kostet eine Durchschnittsfamilie mit zwei Kindern um 500 Euro mehr pro Monat.

STANDARD: Hohe Abschlüsse gefährden den Standort, heißt es. Befeuern Sie die Deindustrialisierung?

Binder: Das ist auch ein Versäumnis der Politik, es gibt keine Industriepolitik. Es braucht stabilisierende Maßnahmen, etwa eine Forschungsförderung in großem Stil, die auf den Erhalt der Arbeitsplätze abstellt und die Transformation der Unternehmen in Richtung Klimaneutralität unterstützt. Die Photovoltaik ist das beste Beispiel: Zuerst in Europa entwickelt, und dann ging die Produktion nach China. Und wir fördern jetzt den Einsatz von Photovoltaikanlagen zur Stromgewinnung, aber die Wertschöpfung ist nicht in Europa, sondern in Asien.

STANDARD: Wenn Energie und Rohstoffe teuer sind, gewinnt die Lohntangente an Bedeutung. Die Personalkosten werden plötzlich zur Belastung …

Binder: Das trifft die Arbeitnehmer genauso. Sie haben die Teuerung der letzten Monate noch nicht abgegolten bekommen. Als Erstes sind die Preise gestiegen, nicht nur für Energie, die Unternehmen haben die Preise weitergegeben, und das hat zu enorm hohen Gewinnen geführt. Jetzt geht es darum, dass die Arbeitnehmer einen guten Lohn- und Gehaltsabschluss bekommen.

Die gekreuzten Hämmer, Symbol des Bergbaus, und das
Die Uhr der Bergleute steht im Büro des Metallgewerkschaftschefs.
© Christian Fischer

STANDARD: Wäre es nicht vernünftig, einen Sockelbetrag an Inflationsabgeltung zu akzeptieren und die steuerfreie Prämie bis zu 3.000 Euro obendrauf zu nehmen? Dann entstünde in der Lohnentwicklung auf Lebenszeit nicht dauerhaft ein Loch, aber das Gerstl für die hohe Energierechnung bekommen die Leute jetzt.

Binder: Genau das ist zu kurz gedacht. Denn das bedeutet natürlich Lohnraub. Eine nachhaltige Lohnpolitik ist das A und O. Ich halte es da mit meinem Vorgänger: Einmalzahlungen können nur der Schnittlauch auf dem Brot sein. Mit Einmalzahlungen lassen wir uns nicht abspeisen. Das hat die Regierung bei der Teuerung versucht, und was ist herausgekommen? Wir haben die höchste Inflationsrate in Europa, und das ist eigentlich schäbig.

STANDARD: Die für Preisstabilität zuständige Nationalbank sagt, mit den Einmalzahlungen könnten die Belastungen der Haushaltseinkommen überkompensiert werden, wenn die Löhne und Gehälter gemäß Benya-Formel um die volle rollierende Inflation erhöht werden. Um das zu vermeiden, sollte man sich am BIP-Deflator, also den Erzeugerpreisen, orientieren, um Zweitrundeneffekte kleiner zu halten. Wäre es nicht die gesamtwirtschaftliche Verantwortung der Gewerkschaft als Sozialpartner, die Inflation zu bekämpfen, damit sie sich nicht verfestigt?

Binder: Wir sind uns jeder Verantwortung bewusst. Aber welche Parameter spielen da noch mit? Es geht in der Lohnrunde ja nicht nur um die Inflationsabgeltung, sondern auch um die Branchenentwicklung, die zwar unterschiedlich war in der Industrie, aber durchaus gut. Die Frage ist: Wie fangen wir das am besten ein? Da ist die Benya-Formel ein Garant, weil es um das gemeinsam Erwirtschaftete geht. Das liegt auf dem Tisch.

STANDARD: Bei 9,6 Prozent Inflation plus dem halben Produktivitätsfortschritt, also weiteren 2,5 Prozent, wären wir rechnerisch bei einem Plus von zwölf Prozent. Das wird bei hohen Energie- und steigenden Lohnstückkosten die Wettbewerbsfähigkeit eher nicht verbessern. Gerade die Metallverarbeitungsindustrie ist vom Export abhängig wie kaum eine andere Branche. Worauf müssen sich die Arbeitgeber einstellen?

Binder: Auf harte Verhandlungen. Wir werden das intensiv diskutieren. Dazu gehört übrigens auch, dass den Arbeitnehmern Sicherheit gegeben wird und vor allem: Die jungen Arbeitnehmer brauchen Perspektiven.

Metallgewerkschaftschef Reinhold Binder sitzt in seinem Arbeitszimmer im ÖGB-Haus auf einem roten Fauteuil
Reinhold Binder, Chef der Produktionsgewerkschaft Proge, wird viel Sitzfleisch brauchen bei den diesjährigen Lohnverhandlungen.
© Christian Fischer

STANDARD: Der Fachkräftemangel eröffnet Aufstiegschancen, die es vor wenigen Jahren nicht gab. Was ist das Problem?

Binder: Die Lohn- und Gehaltsentwicklung hält nicht Schritt. Die jungen Leute können sich ohne ordentliche, nachhaltige Lohnabschlüsse keine Wohnungen leisten. Wir sehen keine Zurückhaltung bei den Gewinnen, die Preise steigen weiter.

STANDARD: Würde eine Differenzierung innerhalb der durchaus unterschiedlichen Metallbranchen von Autoindustrie bis Eisen- und Stahlerzeugung etwas bringen? Die Dienstleistungsgewerkschaft Vida etwa hat für einen Hotelbetreiber einen eigenen KV gemacht ...

Binder: Nein. Die Sektoren der Metallindustrie sind vielleicht unterschiedlich, aber die Arbeitsplätze und Tätigkeiten sind die gleichen. Der KV regelt dabei generell nur den Mindeststandard, darunter geht nichts. Aber jeder Betrieb darf gerne höhere Löhne zahlen. (Luise Ungerboeck, 1.9.2023)