Eine politische Karte Südostasiens zu zeichnen entwickelt sich meist in Windeseile zu einem Spießrutenlauf. Um die Macht von Karten wissend, gibt es in China und Indien – und vielen anderen Staaten der Welt – gar eigene Gesetze, die es unter Strafe stellen, eine andere Version der jeweils von der Regierung vorgegebenen Karte zu publizieren. Nach einer Verwarnung muss man in China umgerechnet bis zu 63.000 Euro hinblättern und mit etwas Pech ins Gefängnis. Indien plante 2016 das Strafmaximum für besonders schwere "Kartenvergehen" gar auf sieben Jahre Freiheitsentzug und knapp zwölf Millionen Euro Geldstrafe zu erhöhen.

Abseits der innerstaatlichen Message-Control sorgen die chinesischen Kartenabenteuer auch regelmäßig für diplomatische Verstimmungen in der Region. Und auch diese Woche war es wieder so weit, als Peking seine Version der "2023 edition of China's standard map" vorstellte – ein sich seit 2006 jährlich wiederholender Vorgang, der jedes Mal aufs Neue die Außenministerien der chinesischen Nachbarn auf den Plan ruft.

Anspannung vor G20-Gipfel

Indien machte diesmal den ersten Schritt, indem es seinen "starken Protest" bezüglich der "Beanspruchung indischen Territoriums" deutlich machte, wie Indiens Außenminister Arindam Bagchi klarstellte. "Wir lehnen diese Ansprüche ab, da sie keine Basis haben", hieß es aus Neu-Delhi. Konkret geht es um die beiden umstrittenen Regionen Arunachal Pradesh und Aksai Chin, die in der chinesischen Version der Dinge plötzlich als "Südtibet" bezeichnet werden.

Erst 2020 kam es in der Region Aksai Chin zu schweren Zusammenstößen, die mindestens 20 indische Soldaten und vier chinesische nicht überlebten. Im Dezember 2022 gab es weitere Scharmützel. Getrennt werden die Atommächte Indien und China hier von der sogenannten Line of Actual Control – einer nicht immer klar definierten De-facto-Kontrolllinie, die keinem der beiden Ansprüche gerecht wird und die nach einem kurzen, für China erfolgreichen, einmonatigen Grenzkrieg im Jahr 1962 gezogen wurde.

Die Grenzziehung strapaziert die indisch-chinesische Freundschaft gehörig.
AP/Anupam Nath

Für viele überraschend war, dass der nationalistische indische Premier Narendra Modi die Grenzstreitigkeiten öffentlich bisher eher kleinredete, wofür er auch Kritik erntete. Kurz nach den schweren Zusammenstößen von 2020 sagte er gar, dass "niemand eingedrungen sei und niemand eindringt". Zwar warnte Modi erst letzte Woche, nach einem Treffen mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping am Rande des Brics-Gipfels, erstmals vor Spannungen und einem "Stand-off" in der umstrittenen Himalaya-Region. Xi wird aber schon kommende Woche zum G20-Gipfel nach Indien reisen, wo erwartet wird, dass die chinesische Grenzziehung auch wieder thematisiert wird – auch von anderen Teilnehmern. Ein G20-Tourismustreffen in der ebenfalls umstrittenen Region Jammu und Kashmir boykottierte China heuer bereits mit Verweis auf die umstrittene Grenzziehung.

Seit Jahren wird in der Region beidseitig hochgerüstet.

Aus neun mach zehn

Auch von den Anrainern des Südchinesischen Meers gab es – durchaus erwartbaren – Protest wegen Chinas neuer Karte. In der an Fischen und Bodenschätzen reichen Region versucht China seit Jahren seine vagen Gebietsansprüche per Kartenmaterial zu untermauern. Meist geschah dies mithilfe einer ob seiner Form auch als Kuhzunge bezeichneten Neun-Striche-Linie, die in der Vergangenheit aber auch schon gelegentlich zu Zehn- oder Elf-Striche-Linie mutierte – je nachdem, wie viel China gerade beanspruchte. Und tatsächlich: In der neuesten Version von Chinas Karte erlebte der zehnte Strich sein Comeback: östlich von Taiwan.

Sie steckt vage das enorme Ausmaß des angestrebten chinesischen Seereichs ab. Es umfasst zahlreiche umstrittene Inselchen, Riffe und Sandbänke, insgesamt zwischen 80 und 90 Prozent des 3,5 Millionen Quadratkilometer großen Südchinesischen Meeres – in etwa die Fläche Indiens.

Im Südchinesischen Meer überschneiden sich viele Ansprüche in der Grenzziehung. Chinas Neun-Striche-Linie überlappt fast alles. Nun wurde sie wieder einmal um einen weiteren Strich rund um Taiwan ergänzt.
Katapult-Verlag

"Die Karte ist der jüngste Versuch, Chinas angebliche Souveränität und Gerichtsbarkeit über philippinische Gebiete und Seezonen zu legitimieren und entbehrt jeder völkerrechtlichen Grundlage", hieß es vom philippinischen Außenministerium in einer Erklärung. Das malaysische Außenministerium sprach von "einseitigen Ansprüchen" Chinas, die man zurückweise. Auch Indonesien und Taiwan protestierten. "Wir hoffen, dass die betroffenen Seiten sachlich und ruhig bleiben und die Angelegenheit nicht überinterpretieren", sagte ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums. Es handle sich um "eine routinemäßige Praxis" bei der "Ausübung der Souveränität Chinas in Übereinstimmung mit dem Gesetz."

Tatsächlich widerspricht der chinesische Anspruch fast jeder akzeptierten Auslegung des internationalen Völker- und Seerechts. So vage China in der Theorie bleibt, umso konkreter demonstriert es seine Ansprüche jedoch in der Praxis und versucht Fels um Fels zu erobern, das Gebiet für sich zu reklamieren und so Fakten zu schaffen, die oftmals die Lösungen auf dem Papier schlagen. China geht dabei sogar so weit, Unterwasserriffe mit viel Sand aufzuschütten, sodass dort Kampfjets starten und Kriegsschiffe eigens ausgehobene Tiefseehäfen anlaufen können. Erst kürzlich gab es diplomatische Proteste und Filmverbote in manchen Ländern, weil auch im "Barbie"-Film eine Neun-Striche-Linie angedeutet wurde. (Fabian Sommavilla, 1.9.2023)