"Ich glaube, dass der Roman auf einer Metaebene zeigt, was die KI nicht kann, noch lange nicht können wird": Ilija Trojanow.
Thomas Dorn

Ilija Trojanow ist einer der recherchierenden Schreibstars der Gegenwart. Sein Werk ist immer auch ein Kommentar zu Zeitfragen, dabei aber nie bloß Themenliteratur. Sein neuer Roman Tausend und ein Morgen schickt eine Art Superheldin durch die Zeiten.

STANDARD: Herr Trojanow, in Ihrem Roman "Tausend und ein Morgen" erzählen Sie von einer jungen Frau namens Cya, die abenteuerliche Zeitreisen in verschiedene Momente von "Damalsdort" unternimmt, immer begleitet von einer künstlichen Intelligenz (KI) namens GOG. Wie kam’s zu diesem Team?

Trojanow: Im Moment führen wir das Gespräch über KI sehr antagonistisch, auch alarmistisch. Dass es auch eine positive Zusammenarbeit geben könnte oder sogar eine Symbiose, weil erniedrigende, entwürdigende Arbeit den Menschen abgenommen wird, das wird erstaunlich wenig diskutiert. Das wollte ich in einem utopischen Roman durchspielen. Außerdem ist ja nicht die Rechenleistung entscheidend, sondern die Frage des Bewusstseins. Bald wird die KI alle Formen unserer Denkeffizienz weit übersteigen. Und ich frage mich: Was ist mit Kreativität, Fantasie, Exzentrik, mit den Wechselwirkungen von Gefühlen und Gedanken? Könnte eine KI denn erzählen? Tausend und ein Morgen ist unter anderem auch der Entwicklungsroman einer KI, die selbst erzählen will.

STANDARD: Einer KI, die wiederum aus der Literatur kommt, also aus der menschlichen Intelligenz. Cya saust als Piratin durch die Welt wie im Blockbusterkino.

Trojanow: Es ist ja ein wahnwitziger Versuch, den utopischen Roman neu zu denken. Wieso sind die meisten bislang literarisch misslungen? Meist zeichnen Utopien eine zu präzise Blaupause einer anderen Welt, dadurch bekommt das Ganze etwas Starres, das den flimmernden Möglichkeiten der Literatur nicht angemessen und zudem totalitär ist, denn es schreibt die bessere Welt geradezu vor. Ich wollte nicht vorschreiben, aber nicht im Vagen einer Beliebigkeit bleiben, sondern Fenster öffnen zum Möglichen. Bei mir wird die Utopie im Kopf der Leserin vervollständigt. George Orwell hat einmal geschrieben, wenn die sozialistischen Visionen so gerecht sind, warum sind die Menschen darin so unglücklich? Den alten Utopien fehlt oft die Lebenslust. Ich habe diese utopische Welt sehr spielerisch gestaltet, als Verführung. So, dass man dorthin auswandern möchte. Durch ein Zelebrieren des literarisch anspruchsvollen Erzählens in allen seinen Möglichkeiten.

STANDARD: Wie kamen Sie auf Sarajewo 1984 als Schauplatz?

Trojanow: Sarajewo ist das Scherzo. Der Roman ist komponiert wie eine Symphonie. Vier Sätze. Das Indien-Kapitel ist ziemlich intensiv, es hat mir viel abverlangt. Am Ende dringen wir zum Wesentlichen vor, zur Russischen Revolution. Zu der großen Frage, wann und wie ist Veränderung möglich? 1984 war der letzte Showdown im Kalten Krieg, Sarajewo im blockfreien Jugoslawien lockte alle Spione der Welt an. Die Raumzeitreisen zeigen zudem etwas Wesentliches in der Gegensätzlichkeit zur utopischen Welt auf. In diesem Fall geht es um die Frage: Was ist Spiel, was ist Sport? Bei den Olympischen Spielen geht es ums Gewinnen. Der Kalte Krieg, der große Aufmarsch, die Choreografie der Massen, all das ist verwirrend für die Heldin Cya.

STANDARD: Cya gleicht großen epischen Heldenfiguren auch durch eine gewisse Naivität.

Trojanow: Ja, weil sie aus einer anderen Welt kommt. Dies ist eine der Umwandlungen des klassischen utopischen Erzählens, wo meistens jemand aus unserer Welt aufbricht, meistens auf einer Insel in der Ferne landet, und das Utopische kennenlernt. Hier ist es umgekehrt: Menschen aus der utopischen Welt besuchen uns bekannte oder halbwegs bekannte Epochen. Dadurch fremdeln wir ein bisschen mit ihnen. Alles auf den Kopf zu stellen ist ein altbewährtes, poetisch-philosophisches Mittel, um uns von dem Selbstverständlichen zu entfernen. Cya ist nicht nur naiv, sie kann vieles gar nicht verstehen – dadurch entsteht eine Spannung, die den Roman trägt.

STANDARD: Was macht die Russische Revolution für Sie so wichtig?

Trojanow: Das ist der wichtigste Moment des 20. Jahrhunderts, und inzwischen, wie wir sehen, auch des 21. Jahrhunderts. Putin mit seiner Politik imperialer Kontinuität macht das deutlich. Die Stalin-Statuen sind in Russland wieder aufgestellt worden. Wenn es tatsächlich zu einem nicht mehr unwahrscheinlichen Krieg zwischen China und den USA kommen sollte, dann wird das auch eine ferne Folge sein. Die Russische Revolution wird wegen ihrer langfristigen Folgen durchgehend negativ wahrgenommen, das trübt aber unseren Blick. Es gibt kaum eine andere Periode der Menschheitsgeschichte, wo sich die Historiker so ideologisch positionieren. Ich versuche aus der Perspektive der Zeitzeugen das kurze utopische Entflammen zu schildern. Auf einmal strömten die Menschen auf die Straßen, sie redeten miteinander, es gibt eine Explosion der Künste. Die Figur Wolodja in meinem Roman ist natürlich Majakowski. Der wollte weg von einer elitären Kunst, aber ohne Verflachung, sondern Poesie auf höchstem Niveau, aber sie wurde in die Fabriken getragen, auf Lastwagen durch die Straßen gefahren. Es entstand unglaublich vieles und wurde dann zunichtegemacht. Das ist eines der größten Dramen, die es jemals gegeben hat.

STANDARD: In dem Teil in Indien geht es um "Glaubensgeschöpfe", also Religionsfragen. Man denkt unwillkürlich an Salma Rushdie. Ist "Tausend und ein Morgen" auch ein postmoderner Roman?

Ilija Trojanow, "Tausend und ein Morgen". Roman. € 30,90 / 528 Seiten. S. Fischer, Frankfurt am Main 2023.
Verlag

Trojanow: Ich habe das mit dem postmodernen Roman nie verstanden. Es ist erstaunlich, dass viele bei uns 1001 Nacht als Märchenbuch wahrnehmen. Es ist ein komplexes Erzählwerk voller Brüche, ein unfertiges Buch, fortgeschrieben durch die westliche Rezeption, megapostmodern. Der erste große Roman und vielleicht immer noch der größte, Don Quixote, hat eine postmoderne Rahmenhandlung. Ich habe mich nie für Theorie interessiert, bin Erzähler durch und durch. Ich halte das in unseren Breiten herrschende dogmatische Misstrauen gegenüber dem Erzählen, der Fantasie für fatal. Mitternachtskinder von Rushdie war für mich wichtig, aber nicht nur dieses. Ich bin aufgewachsen mit afrikanischer Literatur, auch mit orientalischer und balkanischer Literatur.

STANDARD: Eine neue Sprache im Buch heißt Schlicht. Kann man auf Schlicht große Literatur schreiben?

Trojanow: Im ganzen Roman gibt es Hinweise auf utopische Gedanken, und dieser betrifft die Kunstsprache Esperanto. In Prizren habe ich einen Sufi-Scheich getroffen, dessen Vater ein Esperanto-Aktivist im Kosovo war. Vor Jahren habe einen bulgarischen Gulag-Überlebenden porträtiert, der Trost im Esperanto fand. In Westeuropa gab es nach dem Wiener Kongress ein herrschaftsfreies Gebiet im Dreiländereck Niederlande/Belgien/Deutschland, wegen der großen Zinkmine dort, das zu einem Zentrum für Esperanto wurde. Ganz unterschiedliche Menschen haben im Esperanto ein utopisches Element gesehen. Ein neues Schlicht müsste auch außereuropäische Elemente enthalten.

STANDARD: Mit dem "Nebendann" bringen Sie das heute auch in der Populärkultur vielfach verwendete Konzept des Multiversums ins Spiel.

Trojanow: Ich habe den Roman unter anderem als Fellow am STIAS in Stellenbosch in Südafrika geschrieben. Da waren auch zwei Astrophysiker. Im Moment sind Multiversen eine plausible Annahme in der theoretischen Physik. Das habe ich übernommen, weswegen es gegen Ende des Romans zu dem literarischen Experiment kommt, vier parallele Entwicklungslinien nebeneinander zu erzählen.

STANDARD: Haben Sie selbst beim Schreiben KI bemüht?

Trojanow: Ich glaube, dass der Roman auf einer Metaebene zeigt, was die KI noch nicht kann und noch lange nicht können wird. Ein Roman, der das Urmenschliche hochhält, ein humanistischer Roman: Schau mal, das macht uns Menschen aus, diese Lebensfreude, diese Sinnlichkeit. (Bert Rebhandl, 3.9.2023)