Sepp Mall schildert eine "große Zeit" aus Kindersicht.
Minitta Kandlbauer

In seiner Familie habe es keine Wörter für den Abschied gegeben: So beginnt das kindliche, später jugendliche Ich seine Erzählung in Sepp Malls neuem Roman Ein Hund kam in die Küche. Wie aus einem löchrigen Sack seien sie ihrem Sprachschatz entfallen, erst die Wörter für Abschied, später jene für Tod, Schmerz und Trauer. Doch offenbart sich dieser Wortverlust erst im weiteren Verlauf.

Ungeahnte, geradezu unermessliche Möglichkeiten stellte die Kumpanei der Diktatoren Mussolini und Hitler ihren "Völkern" in Aussicht und nannte sie "Option". Die Beschränktheit beider Männer schloss kulturelle wie sprachliche Vielfalt aus, und so machten sie sich gemeinsam ans Werk einer ethnischen Bereinigung in alle Richtungen. Zuerst erfolgte diese auf linguistischem Weg: Die deutsch- und ladinischsprachige Bevölkerung Südtirols sah sich einem brutalen Italianisierungsprozess unterworfen, der den Gebrauch ihrer Muttersprache in Amt und Alltag verbot und ihnen ab 1939 nahelegte, doch "heim ins (deutsche)Reich" zu ziehen, wo immer das war.

Politisches Halma-Spielbrett

Die totalitäre Bevölkerungspolitik erinnert an ein Halma-Spielbrett, wo Volksgruppen wie Spielfiguren möglichst vollzählig, also Blau zu Blau oder Gelb zu Gelb, wenn auch unter gegnerischem Widerstand, vom einen zum anderen Ende des Spielfelds geschoben werden.

Geopolitik als Kinderspiel: Nicht zufällig hat Sepp Mall das Endloslied Ein Hund kam in die Küche als Titel für seinen Roman gewählt, der vom Auszug einer Südtiroler Familie, damals "Option"genannt, aus dem Vinschgau über Innsbruck in den "Oberdonaugau", das heutige Oberösterreich, erzählt. Die, in kindlicher Diktion, "Wanderung" führt sie später in eine Wohnstätte nahe Landeck und, nach Kriegsende, per Flucht wieder zurück in den Vinschgau, nach Mariendorf, einem fiktiven Dorf an der Vinschger Bahn nahe Meran.

Zerschlagene Familie

Trümmer gescheiterter Diktatorenpläne säumen wie verstreute Bauklötze den Weg der Familie, Verwesungsdunst begleitet ihn von Anfang an. Denn "völkische Reinheit" definierte sich nicht nur ethnisch, sondern auch genetisch: Hanno, der kleine Bruder des Ich-Erzählers, ist, in heutiger österreichischer Diktion, "nicht normal" und damals, im Volksmund, "zurückgeblieben", nach Geburtskomplikationen motorisch, sprachlich und auch geistig beeinträchtigt.

Er ist ein kreatives, liebenswertes, geliebtes, in die Gemeinschaft gut eingebundenes Kind. Gleich nach der Ankunft der Familie im Innsbrucker Bahnhofshotel, wo auch die Gestapo wütete, wird es zwecks "Untersuchung auf Haut und Knochen" in das St.-Josefs-Heim in Mils (nahe Hall in Tirol) verbracht und dem Pflegepersonal im guten Glauben überantwortet.

Von Hannos Tod in der bayerischen Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee erfährt die Familie aus einem amtlichen Schreiben und muss sich mit der Diagnose Lungenentzündungabfinden. Für Mord fehlen ihr die Worte. Das Wort "Euthanasie"blieb den Mächtigen vorbehalten, doch selbst die nannten sie lieber "T4-Aktion".

Sepp Mall, "Ein Hund kam in die Küche". € 24,50 / 192 Seiten. Leykam, Wien 2023.
Leykam

Schwieriges Unterfangen

Eine "große Zeit" aus dem Blickwinkel eines Kleinen zu schildern – wie es etwa von Günter Grass in seiner Blechtrommel und nicht zuletzt von Ruth Klüger in Weiter leben unternommen wurde – ist psychologisch und sprachlich kein leichtes Unterfangen. Sepp Mall, Vertreter der Südtiroler Nachkriegsgeneration, meistert die Herausforderung, indem er den diktatorischen Raub an Leib und Leben, an Hab und Gut am Sprachraub festmacht: Er beschreibt das Schicksal der "Optanten" aus der Sicht eines versprengten Kindes seines Heimattales.

Begriffe, die dem Ich-Erzähler von den schweigenden Eltern vorenthalten werden, füllt er mit kindlichen Wortschöpfungen und Versatzstücken aus der Tätersprache. Bei der Ankunft in Innsbruck sieht er sichin ein "Fahnenmeer" getaucht, auch wenn die Flaggen tags darauf nur mehr herunterhängen wie nasse Fetzen. Dass der Vater "im Feld steht", lässt ihn an einen Rübenacker denken und erinnert beim Lesen an eine Vogelscheuche.

Geisterfreund

Geflüchtete Sudetendeutsche werden zu "Schwedendeutschen" und ihr Hund, den Ansässige erschlagen, zum "Schwedenköter". Auch er selbst sieht sich mit Schimpfwörtern wie "Hungerleider", "Katzelmacher" (Anm.: fälschlich für "Gatzelmacher", also Hersteller von Küchengerät) oder "Itaker" (Anm.: heute noch in Tirol abwertend für Italiener verwendet) bedacht, obwohl doch sein Vater mit den "Deutschen" gegen die "Franzfeinde" kämpfe und auf "Russenjagd" sei.

Dass aber die Ermordung seines Bruders um des "gesunden Volkskörpers" willen geschah, kann er nicht nachvollziehen, denn gerade Hanno gesellt sich nach dessen Tod als imaginärer Begleiter zum Erzähler und hilft ihm kraft seiner posthumen Einbildungsgabe, die Zerschlagung der Familie zu verarbeiten. Eine paradigmatische Erzählung über die großen Tragödien kleiner Leute, eingepreist in die fehlkalkulierte Bilanz totaler Herrschaft. (Sabine Wallinger, 2.9.2023)