Terézia Mora schreibt an einer Mentalitätsgeschichte der Gegenwart.
Luchterhand/Berghäuser

"Glaube mir, für die Dauer ist der nichts." Das sagt ein Freund zur achtzehnjährigen Muna Appelius, die unsäglich verzweifelt ist, dass der Mann, in den sie seit Monaten verliebt ist, nicht mehr auftaucht. Es ist Sommer 1989, und schließlich begreift sie: "die Liebe ihres Lebens war tatsächlich für immer weg". Magnus Otto hat keine Radtour nach Rumänien und Bulgarien gemacht, sondern ist in den Westen abgehauen. Nach sieben Jahren begegnen sich die beiden in Berlin wieder, und es wird noch viele Jahre dauern, bis Muna begreift, dass Magnus ein gewalttätiger Mann ist und sie von ihm abhängig.

Alle Protagonisten in Terézia Moras Büchern sind zeitgenössische Aliens, um auf den Titel ihres Erzählbandes Die Liebe unter Aliens anzuspielen, aber nichts läge der Autorin ferner, als von Außerirdischen zu erzählen. Mora ist eine realistische Autorin, die mit ebenso viel Empathie wie schonungsloser Präzision an einer Mentalitätsgeschichte unserer Gegenwart schreibt. Ihre Antiheldinnen und Antihelden treiben von einer Katastrophe in die nächste, sie sind Grenzgänger, die den "Geruch der Fremde" in ihren Taschen tragen, wie es in ihrem ersten, fulminanten Roman Alle Tage heißt, die aber dennoch ihre Sehnsucht nach Glück und Liebe bewahren.

Geboren als Fremde

Im Mittelpunkt ihrer ersten Trilogie stand der IT-Spezialist Darius Kopp, der zwar zunächst aus dem Leben fällt, sich dann aber wieder ins Leben zurückkämpft. Muna oder die Hälfte des Lebens ist nun der erste Band einer Trilogie der Frauen. Die Autorin will die "weibliche Variante" des "Stolperns durch die Welt" beschreiben.

Prekär sind die Arbeitsverhältnisse nicht nur in der IT-Branche, sondern auch im von Mora ironisch und kritisch gesehenen Kultur- und Wissenschaftsbetrieb. Schon der Name markiert Muna Appelius als Fremde, geboren in einer Kleinstadt in der DDR, die sich nach der Wiedervereinigung zurechtfinden muss und dabei alleingelassen wird. Der Vater starb, als sie noch ein Kind war, die Mutter, Schauspielerin und Alkoholikerin, versucht sich eine Woche nach Munas achtzehntem Geburtstag mit Tabletten und Alkohol das Leben zu nehmen. Sie überlebt, zieht in den Westen und kann Muna kein Zuhause mehr bieten.

Muna ist eine selbstbewusste junge Frau, die aufgrund ihrer schwierigen familiären Situation sehr selbstständig agiert, schon als Schülerin einen Schreibwettbewerb gewinnt und ihr Studium der deutschen und englischen Literatur in Berlin, London und Wien mit einigen Unterbrechungen schließlich mit der Dissertation über "die stille und geheime Selbstvergewisserung" bürgerlicher Frauen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erfolgreich absolviert.

Ihren Lebensunterhalt verdient sie sich zu den Stipendien mit diversen Jobs in Forschungsprojekten zum Beispiel über vergessene österreichische Autorinnen, Verlagen und Buchhandlungen. Auch Magnus hat in Paris studiert und arbeitet als Germanist an verschiedenen Universitäten, schreibt an einer Habilitation über "Männlichkeitskonstruktionen bei Hans Henny Jahnn". Muna folgt ihm nach Basel, nach Kanada geht er allein, Kinder möchte er keine. Seine Gewalttätigkeit steigert sich, zunächst demütigt er sie psychisch, dann auch körperlich. Er ohrfeigt sie, verprügelt sie, verschwindet immer wieder, lässt sie in einer gekündigten Wohnung zurück. Aber Muna will ihre Liebe nicht aufgeben, auch als er endgültig unauffindbar ist.

Terézia Mora, "Muna oder Die Hälfte des Lebens". € 25,70 / 448 Seiten. Luchterhand, Berlin 2023.
Luchterhand

Überlebensstrategie

Terézia Mora verwandelt in ihrem Roman viele Lebensgeschichten in Literatur, wechselt raffiniert und gekonnt die Erzählperspektiven und arbeitet mit schnellen Schnitten. Wenn sie davon erzählt, was sich Muna denkt, aber nicht ausspricht, verwendet sie Klammern oder streicht Wörter und Sätze durch. Muna kann aber auch heulen und toben und sich selbst verletzen, und das alles ist sprachlich so sinnlich und berührend, dass wir der Figur ganz nahe kommen. Schließlich wendet sich Muna von der Wissenschaft ab und beginnt Geschichten zu schreiben.

Das Stolpern durch die Welt kennt auch Terézia Mora, wie sie in ihrem Tage- und Arbeitsbuch Fleckenverlauf erklärt, denn "Schreiben ist auch Stolpern, nur ist das Ergebnis am Ende sichtbarer, vorzeigbarer, verwertbarer, auch für andere". Schreiben wird auch für Muna eine Überlebensstrategie, mit der sie ihre Handlungsfähigkeit wieder zurückgewinnen kann. Am Ende von Terézia Moras grandiosem Roman Muna oder Die Hälfte des Lebens besteht sogar Hoffnung auf eine bessere zweite Hälfte des Lebens. (Christa Gürtler, 2.9.2023)