Wasser als Verbündeter, dieses Gefühl kennen Turmspringerinnen.
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Egal, wie weit ich zurückdenke: Wasser war stets mein Verbündeter. Angst vor diesem Element war und ist mir fremd, Respekt aber habe ich vor ihm. Noch bevor ich schwimmen konnte, meinte ich, Wasser zeige mir stets ein freundliches Gesicht. Je mehr Zeit ich an und in Gewässern jeder Art verbringe, desto klarer sehe ich, dass dieser Gedanke gefährlich naiv ist. Kaum ein Element fasziniert uns so sehr, kaum eines wiegt uns so sehr in Sicherheit, lässt uns selbstvergessen in ihm treiben, nur um uns im nächsten Moment den Boden unter den Füßen wegzureißen und eine vernichtende Kraft zu entwickeln. (…)

Mühelos und magisch

Wer sich dem flüssigen Element nähern will, sollte tunlichst schwimmen können. Ich lernte es während eines Urlaubs im Alter von etwa sechs Jahren. Alles drehte sich für mich um Wasser: um die Zeit, bevor meine Familie gemeinsam das erste Mal den Pool der Ferienanlage oder den See aufsuchte, wie lange ich warten musste in der Früh, bis alles für den Tag gepackt war, wie lang ich im Wasser bleiben durfte (blaue Lippen!), ob ich mich trauen würde, im See zu baden, oder hasenherzig nur bis zu den Knien hineinwatete.

Dass ich am Ende des Sommers schwimmen konnte, verdanke ich meinem Vater. Ich bewunderte ihn für sein Können, beobachtete staunend, wenn er zu einer Bahn Schmetterling ansetzte und das Becken durchpflügte. Es sah mühelos aus und magisch – ich wollte das auch können, nicht ahnend, wie viel Kraft, Technik und Ausdauer dieser Schwimmstil den Schwimmenden abverlangt. Mit unglaublicher Geduld brachte er mir jedenfalls bei, wie ich mich nicht mehr im paddelnden "Hundstrab", sondern brustschwimmend vorwärtsbewegen konnte.

Flügellos im Becken

Wichtiger als die Technik war – so weiß ich heute –, dass er jedes Mal, wenn er mit mir im Becken war, vorher heimlich ein wenig mehr Luft aus meinen Schwimmflügeln herausließ. So hielt ich mich nach und nach, ganz unbemerkt, ein bisschen mehr selbst über Wasser. Ich erinnere mich daran, wie sehr ich meine neonorange-blauen Schwimmflügel mochte und wie sie mir schließlich schlapp an den Armen herunterhingen. Sie hatten keinerlei Funktion mehr, ich aber weigerte mich, sie abzunehmen. Ich war überzeugt, ich würde, wäre ich ihrer beraubt, augenblicklich untergehen. (...)

Das erste Mal die Schwimmflügel abzunehmen war ein tränenreiches Unterfangen – ich war in Sorge, plötzlich bereitete mir das, was ich so liebte, schreckliche Angst. Es brauchte viel Überredungskunst, flügellos ins Becken zu steigen, aber die Aufregung, die ungläubige Euphorie, als ich nach den ersten zögerlichen Bewegungen verstand, dass ich dem kühlen Nass und vor allem mir selbst trauen konnte, ist mir so präsent, als geschähe es just in diesem Moment.

Manchmal, wenn ich nicht weiterweiß, wenn mir eine Herausforderung utopisch, eine Hürde unüberwindlich erscheint, habe ich heute noch ein konkretes Bild vor Augen: das Schwimmbecken eines italienischen Hotels, strahlend blauer Himmel, das neugierige, aber manchmal zaghafte Kind, das ich war, mein geduldiger, ausdauernder Vater, dem ich bedingungslos vertraute, bis ich mir selbst vertrauen konnte. Ich dachte, ich könne schwimmen. Inzwischen weiß ich es besser: Es war ein verzauberter, bezaubernder Anfang.

Seit Juni ist Stefanie Jaksch freischaffende Autorin, Kuratorin und Lektorin.
Luis Harmer

Sprung ins Ungewisse

Denke ich Anfänge, so sehe ich sofort die Weite offener Gewässer vor mir, einen schnurgeraden Horizont, einen Moment der Fülle, in dem noch nichts getan, aber alles möglich ist – und muss mir gleich darauf eingestehen, dass ich mich in der Enge gechlorter Schwimmbäder auch als erfahrene Schwimmerin trotzdem sicherer fühle, wenn zwar meine Möglichkeiten, aber eben auch die Gefahren eingeschränkt sind. Kein Tier, das dem Element Wasser deutlich besser angepasst ist als ich, wird plötzlich neben mir auftauchen, keine Schlingpflanze meinen Bauch kitzeln oder sich um meinen Arm wickeln, keine Strömung meine Schwimmbahn beeinflussen. Scheuen wir unter anderem deswegen solche Anfänge? Weil sie noch grenzenlos sind und wir Menschen Entgrenzung im Sein, im Tun, im Denken nur schwer aushalten können?

Auch wenn es oft erstrebenswerter, vielleicht einfacher erscheint, ein geregeltes Leben in täglichem Gleichklang zu verbringen, so kann dennoch jede:r von Neustarts, disruptiven Momenten oder vielleicht sogar Comebacks erzählen. Ein gesichertes Umfeld zu verlassen erfordert Mut, Klarheit, Überzeugung und auch ein wenig Wahnsinn. Den Sprung ins Ungewisse zu wagen, eine Zäsur zulassen zu können, wenn doch alles recht gemütlich und bekannt ist, sich aber nicht mehr richtig anfühlt, ist ein ebenso großes Privileg, wie einen Anfang zu verantworten. (...)

Geöffnete Herzen

Manche Anfänge sind jedoch dafür da, dass man sich ihnen erst einmal allein stellt, mit weit geöffneten Augen und noch weiter geöffnetem Herzen. Das gilt besonders für die Zeit, die in einem Dazwischen, in einem Noch-Nicht angesiedelt ist – für diese Phase der Verunsicherung, die vieles infrage stellt, alte Wunden aufbricht, ein radikales Umdenken erfordert und Platz schafft für Neues. Ich bin überzeugt, all das gilt für persönliche Veränderungen und Krisen ebenso wie auf einer gesamtgesellschaftlich betrachteten Ebene. Es geht nicht lange gut, die Augen vor dem Offensichtlichen zu verschließen. Wir wissen das, uns liegen zu allen Herausforderungen, denen wir uns als Gemeinschaft stellen müssen – Klimawandel, Fremdenhass, Misogynie, Flucht und Vertreibung, Homophobie, Ausgrenzung, Misstrauen in demokratische Prozesse und vieles mehr – Studien, Zahlen, Einschätzungen von Expert:innen vor. Wir wissen, dass uns die Zeit davonläuft; wir stecken mitten in einem Sommer, der wieder Rekordtemperaturen bringt, in dem sich die Weltmeere so sehr aufgeheizt haben, dass es uns alle zum sofortigen Umdenken und Handeln bewegen sollte. Allein: Wir tun es nicht. (…)

Ich wage zu behaupten, dass in meiner Erzählung vom Schwimmenlernen bereits viel von dem steckt, was wir über das Anfangen zu wissen glauben: Wir begegnen der Tatsache, dass jedem Anfang etwas vorausgeht, kein Anfang aus sich selbst heraus entsteht; ihm geht ein Wille, eine Neugier, ein Lernen-Wollen voraus und damit ebenso eine Auseinandersetzung mit der eigenen Umwelt und ein Bewusstsein für Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft.

Dazu gehört, dass wir selten etwas allein beginnen; selbst die charismatischsten Vordenker:innen brauchen Mitstreiter:innen, die ihnen mit Rat und Tat sowie im Idealfall (vor allem) mit Kritik zur Seite stehen. Selbst der Urknall war keine creatio ex nihilo, sondern konnte auf die Bausteine für ein ganzes Universum zurückgreifen, komprimiert auf das Tausendstel der Größe eines Stecknadelkopfes, um sich explosionsartig zu entladen. (...)

Das Neue wagen

Wir atmen auf in dem Wissen, dass wir, wagen wir einen Anfang, einen Schritt getan haben, der uns in unsere eigenen Fähigkeiten vertrauen lässt. (...) Wir kennen die Materie, wir haben uns vorbereitet, können auch mit Widrigkeiten oder Überraschungen umgehen. Das ist nicht immer angenehm, im Windschatten von anderen lässt sich fast alles deutlich leichter bewerkstelligen. Aber wenig schult mehr als ein Zurückgeworfensein auf sich selbst oder die Einsamkeit des Nachdenkens, Planens und Verwerfens, wenn kein Anfang so recht gelingen will. Dabei hilft ein Wissensaspekt: Phasen des profunden Alleinseins sind notwendig, lehrreich und meist temporärer Natur.

Wir weigern uns gern anzuerkennen, dass wir eigentlich schon längst mittendrin sind und den Moment des Beginnens hinauszögern wollen: Willkommen, liebe Prokrastination, du viel gescholtene Schwester des Anfangs. Dass es sich dabei nicht um reine Faulheit oder Bequemlichkeit handelt, sondern das Zaudern von rationalen wie irrationalen Ängsten ausgelöst wird, liegt auf der Hand. Sich noch unklaren Verhältnissen auszusetzen (...) erfordert große Willenskraft, denn nicht alle Anfänge laufen so glatt wie geplant. Die Möglichkeit des Scheiterns ist ihnen immer eingeschrieben, und nichts beunruhigt mehr als das. Scheitern gehört nicht zur DNA des Homo oeconomicus, der sein Handeln nach der Gewinnmaximierung ausrichtet. Vielleicht ist es Zeit für ein neues Menschenbild, vielleicht wagen wir es, einen Homo initiumicus zu denken, der Gewinn anders definiert, der vielmehr in Ideen mit dem Fokus auf Gemeinwohl und Nachhaltigkeit denkt.

Uns beschleicht die Ahnung, dass der Anfang ein wichtiger, aber beileibe nicht der einfachste Teil des Ganzen ist. (...) Nur selten entpuppt sich etwas nach einem vielversprechenden Beginn als Selbstläufer – die wahren Herausforderungen zeigen sich erst im Laufe der Zeit, wenn Rückschläge zu meistern, Kurskorrekturen vorzunehmen sind und Gegenwind auszuhalten ist. All das offenbart sich erst auf der Langstrecke.

Stefanie Jaksch, "Anfangen. Eine Entzauberung". € 10,– / 55 Seiten. Globart, Wien 2023 (kann unter info@globart.at bestellt werden)
Globart 2023

Ungewisses Ende

Und natürlich gibt es keinen Anfang ohne die Frage nach einem möglichen Ende. Wir wollen erst einmal automatisch jedem Anfang ein Ende zuordnen und glauben, dass es zu jedem Startpunkt auch einen Zieleinlauf geben muss. Diese Annahme versichert uns, dass wir wissen, wann wir etwas gemeistert haben, dass es eine Demarkationslinie gibt, die uns signalisiert, dass unsere Anstrengungen wertgeschätzt werden und einen Grund hatten – oder wir auf uns stolz sein können.

Was aber ist, wenn ein Ende nicht immer gewiss wäre? Würden wir weiterhin beständig die Entbehrungen, die Planungen, die Spannungen, die Euphorie, das Wechselbad der Gefühle, das ein Anfang zwingend mit sich bringt, in Kauf nehmen? Wenn man uns kein Ende versprechen könnte, sondern stattdessen lediglich mal größere, mal kleinere, aber im Grunde sich selbst perpetuierende Mühen in Aussicht stellte?

Ist die Überlegung, niemals etwas abschließen zu können, auf Dauer unerträglich, oder bringt sie am Ende immer neue Energie, Dynamiken und Ansätze zutage? Mit Blick auf große historische und gesellschaftliche Umwälzungen, die oft nicht innerhalb einer Generation passieren, sondern einen überzeitlichen Atem brauchen, liegt der Schluss nahe, dass es für manche Kämpfe eine besondere Form der Resilienz braucht – ob wir diese haben, finden wir nur heraus, wenn wir uns trauen, etwas zu beginnen. (Stefanie Jaksch, 1.9.2023)