Jonathan Coe
Der britische Schriftsteller Jonathan Coe.
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Manche Buchtitel bleiben unübersetzbar. Das neue Werk des Engländers Jonathan Coe zum Beispiel, "ein Roman in sieben Ereignissen", wie der Untertitel ausführt, heißt im Englischen wie im Deutschen "Bournville". Man hätte mit etwas Fantasie stattdessen vielleicht "Die Modellsiedlung” sagen können, oder “Das Schokoladenparadies". Für beides steht Bournville. Es wurde einst von der Quäker-Familie des Lebensmittel-Fabrikanten Cadbury für die Arbeiter der Schokoladenfabrik im Süden der mittelenglischen Metropole Birmingham gebaut und gehört heute zu den begehrtesten Wohnorten in England.

In vielerlei Weise ist dieses Buch klarer autobiografisch als frühere Werke wie Erste Riten (2001) oder Klassentreffen (2004), mit denen der Brite bekannt wurde – und nicht zuletzt auf dem europäischen Kontinent populär ist als jemand, der auf einfühlsame Weise die Stimmungslage auf der Insel einfängt. Seither gilt er als Spezialist für die Kategorie "Bestandsaufnahme der Nation", sein Brexit-Roman Middle England (2018) erhielt auch mit Hinweis darauf den Costa-Preis.

STANDARD: Sie selbst bedenken Ihre Romane mit dem Hinweis "state of the nation". Versuchen Sie den bewusst, so zu schreiben, dass Sie die Lage Ihres Landes einfangen?

Coe: Der Ausdruck bezieht sich auf den klassischen Roman des 19. Jahrhunderts. Damals konnte ein weißer Autor aus der Mittelschicht aufs Podium treten und sagen: "Ich spreche für alle." Das geht nicht mehr. Heute sind wir uns alle sehr bewusst, von welcher Sicht- und Denkweise wir herkommen: Ethnie, Geschlecht, gesellschaftliche Schicht. Ich glaube, dieses Buch ist mehr noch als die vorhergegangenen eine Mischung aus Persönlichem und Politischen. Wobei das Persönliche aus meiner Sicht immer Vorrang hat. Ich fühle mich eigentlich wie ein Dichter, der ein Sonett schreibt: Jeder Roman ist zuallererst ein Versuch, mich auszudrücken, mich zu erforschen. Um das zu tun, muss ich das Land verstehen, das mich geprägt hat und weiterhin prägt. Ganz egal, wie frustriert ich mit unserer Situation bin, bleibe ich doch Engländer.

STANDARD: Ein stolzer Engländer?

Coe: Na, sagen wir, ein stolzer skeptischer Engländer.

STANDARD: Es ist also kein Buch zur Lage der Nation, sondern zur Lage der weißen englischen Mittelschicht.

Coe: So sehe ich das. Ich entschuldige mich auch gar nicht dafür, das ist schließlich das Einzige, was ich schreiben kann.

STANDARD: Autoren werden ungern gefragt, ob es autobiografische Bezüge in ihrem Werk gibt. Sie machen eine Ausnahme: In der Autorennotiz am Ende des Romans erläutern Sie, dass ein zentraler Charakter des Buches, Mary Lamb, auf dem Leben und dem einsamen Tod Ihrer Mutter während der Covid-Pandemie basiert.

Coe: Ja, ich bin noch immer traurig und wütend darüber. Wir hielten uns damals an die Regeln, während in der Downing Street vom damaligen Premier Boris Johnson Lockdown-Partys gefeiert wurden. Das Buch sollte ursprünglich nicht nur von meiner Mutter handeln, sondern von meinen Eltern, meinem Bruder und mir. Und darüber hinaus ein Roman zum Zustand der Nation über 75 Jahre sein. Aber recht früh beim Schreiben merkte ich: Das geht nicht zusammen. Mein Vater, mein Bruder und ich unterschieden uns nicht genug voneinander, bildeten keine Gegensätze, um eine Romangeschichte aufrechtzuerhalten.

STANDARD: Denn dafür braucht es Spannungen zwischen den Figuren?

Coe: So ist es. Ich wollte Marys Mann als mehr oder weniger offenen Rassisten darstellen. Ihr Sohn Jack sollte ein Tory und Brexiteer sein.

STANDARD: Und weder Ihr Vater noch Ihr Bruder passten dazu?

Coe: Mein Vater war gewiss kein Rassist, und mein Bruder hat für den EU-Verbleib gestimmt. Ich musste also den Rest der Familie fiktionalisieren. Und am Ende des Schreibprozesses stand eine Melange, von der ich fand, ich sollte den Lesern darlegen: Das Buch porträtiert meine Mutter, aber eben nicht die anderen Mitglieder meiner Familie.

STANDARD: Zudem haben Sie Mary drei Söhne gegeben.

Coe: Was wiederum der Notwendigkeit geschuldet war, unterschiedliche politische Standpunkte und Charaktereigenschaften an Figuren festzumachen. Peter und Martin ergeben sozusagen gemeinsam mein Selbstporträt. Ganz bestimmt war ich 1981 bei der Heirat von Prinz Charles und Diana genau so, wie ich die Person Peter beschrieben habe: ein mürrischer 20-Jähriger, der zwar mit den anderen im Zimmer sitzt, sich aber mit klassischer Musik aus den Kopfhörern und einem Roman von Hermann Hesse abschottet.

STANDARD: Zu Beginn des Romans wird im März 2020 Marys Enkelin Lorna während einer Musik-Tournee in Wien von einem Anglophilen gefragt, wie das vielfach bewunderte, für seine pragmatische Politik bekannte Großbritannien sich für eine Idiotie wie den Brexit habe entscheiden können. Ist das auch autobiografisch?

Coe: So ist es. Ich absolvierte im März 2020 eine Lesereise, genau wie im Roman beschrieben. Ein Buchladen in Berlin, die Literaturhäuser in München und Hamburg, das Kreisky-Institut in Wien – allesamt schlossen sie am Tag nach meiner Lesung die Tore. Und überall drehte sich die abendliche Konversation um zwei Themen: einerseits um die Covid-Pandemie, über die wir nichts wussten, und um den Brexit. Nach dem Motto: Sagen Sie mal, was ist denn da los?

STANDARD: Wie lautete Ihre Antwort?

Coe: Schauen Sie, das ist der Grund, warum ich Romane schreibe und auf diese Weise über die Dinge nachdenke.

STANDARD: Wo, würden Sie sagen, steht das Land jetzt?

Coe: Als Nation halten wir gerade die Luft an, oder vielleicht treten wir auch auf der Stelle. Die nächste Wahl wird eine Abrechnung zur Folge haben. Wenn Labour gewinnt, wonach es ja aussieht, wird man sehen, ob die neue Regierung genug Kraft und Phantasie hat, um wirkliche Veränderungen herbeizuführen. Oder ob es mit der Misere weitergeht, nur ein wenig sozialer als bisher. Die derzeitige konservative Regierung unter Premier Rishi Sunak wird irgendwie ausgehalten, keiner ist so richtig enthusiastisch.

STANDARD: Wie schaut das Land heute auf den Brexit?

Coe: Wir haben ein Wahrheitsproblem, nicht zuletzt in der Politik. Dazu gehört die Abwesenheit jeder Diskussion über den Brexit. Wir haben da eine weitreichende Entscheidung getroffen, und damals sagten auch alle, dass es ein Riesending ist. Das war schließlich einer der Gründe, warum die Leute mehrheitlich dafür gestimmt haben. Und jetzt, wo’s nicht funktioniert, wird gesagt: Ach, das war doch gar keine große Sache, die Covid-Pandemie und der Ukraine-Krieg sind schuld an allen Problemen. Aber wenn das stimmt: Warum haben wir’s dann gemacht?

STANDARD: Wie erklären Sie sich, dass ihre Bücher im Ausland, zum Beispiel in Frankreich oder Italien, so populär sind?

Coe: Das kann ich gar nicht recht erklären. Höchstens wiederhole ich, was in Bournville gleich zu Anfang vorkommt: Dass es, was viele Briten bis 2016 gar nicht zur Kenntnis nahmen, eine große Anglophilie gab und gibt in vielen Ländern des Kontinents. Und dass die dauernde Quengelei von der Insel gegenüber allzu wolkigen Brüsseler Absichtserklärungen von vielen als Stärke angesehen wurde.

STANDARD: Ach, und Ihrem Eindruck nach war das hier in England gar nicht so bekannt?

Coe: Ich glaube nicht. Es gibt so eine Art "kulturelle Scham" gegenüber dem eigenen Land. Wenn wir ins Ausland reisen, entschuldigen wir uns dauernd für unsere mangelhaften Sprachkenntnisse und unser wenig schmackhaftes Essen. Und bekommen zur Antwort: Aber eure tollen Schrifsteller, eure großartige Musik!

STANDARD: Seit langem komponieren Sie nicht nur Bücher, sondern auch Musik, spielten früher Keyboard in einer Progressive Rock-Band...

Coe: Ich bin Dilettant, was die Musik angeht. Da kann ich mir eine gewisse Sorglosigkeit mit Noten und Akkorden leisten. Ich improvisiere ja vor allem. Hingegen stellt Schreiben Arbeit dar: Wie ein Minenarbeiter baue ich etwas ab und versuche, es zu etwas Sinnvollem zusammenzufügen. Mein Verhältnis zu Wörtern ist ernsthafter als zur Musik. (Sebastian Borger aus London, 6.9.2023)