Philosophie Ökologie Globart
Eva von Redecker gastiert in Melk bei Globart, den "Tagen der Transformation". Ihr Buch "Bleibefreiheit" macht gerade Furore.
Paula Winkler

Mit ihrem Buch Bleibefreiheit hat Eva von Redecker heftige Diskussionen ausgelöst. Die Philosophin fordert nicht weniger als eine Rückbildung unseres Freiheitsbegriffs, um im pfleglichen Zusammenwirken mit der Natur in eine neue Phase des Kooperierens einzutreten. Gefragt sei ein wechselseitiges Eintreten in "Gezeiten". Redecker spricht am Samstag im Rahmen von Globart auf Stift Melk – den "Tagen der Transformation" – über das Thema "Anfangen, Zeit zu haben".

STANDARD: Revolutionäre schossen seit 1830 in Paris immer wieder auf öffentliche Uhren: Protest gegen die Beschleunigung der Moderne. Wie sähe Ihr Beginn für ein neues Zeitverständnis aus?

Redecker: Ein revolutionärer Moment wäre ein solcher, in dem sich maximal viel verändern ließe. Es wäre ein Stillstand der Zeit, der zugleich eine Fülle mit sich brächte, eine Möglichkeit für die Weckung von Potenzialen. Zugleich würde ich betonen, dass das Einsetzen einer neuen Zeit nicht in allen Revolutionen auf die Geste des Anhaltens hinausläuft. Das kommt von progressiver Seite erst im 20. Jahrhundert auf. Sobald man weiß, dass es nicht nur die Position des Lokführers auf dem Fortschrittszug zu übernehmen gilt, bedarf es neuen Wissens: Man muss an der Bewegungsrichtung sowie an der Geschwindigkeit etwas verändern. Damit kommt das Motiv der Notbremsung ins Spiel. Ich selbst glaube allerdings, dass uns auch das Anhalten nichts nützt. Wir müssen neue Versorgungspraktiken in den Zwischenräumen des Alten etablieren.

STANDARD: Die Rücksichtnahme auf die Natur macht, wie Sie schreiben, die Auffassung neuer Zeitmaße erforderlich. Wir sollen uns mit den Regenerationszyklen der Natur synchronisieren.

Redecker: Ich möchte weg vom Bild der Einschränkung: dass wir uns zurücknehmen müssen, um Platz für etwas anderes zu schaffen. Rücksichtnahme ist ein vernünftiger Gedanke, der zum liberalen Freiheitsbegriff dazugehört. Doch wenn wir unverzüglich Ernst machten mit dem Transformationsbedarf, der aufgrund der Klimakrise besteht, würden wir im Nu erdrückt werden. Aber die Alternative heißt auch nicht Synchronisierung. Wir haben Freiheit in unserem Bezug auf Natur. Ich würde also eher von einer zugewandten Kontaktaufnahme sprechen.

STANDARD: Die Natur und wir profitieren voneinander?

Redecker: Unsere derzeitige Wirtschaft basiert auf Plünderung der Natur. Aber man versteht diese Plünderung nicht, wenn man sie auf den Nenner von Geld oder Profit bringt. Der ist in der Ökologie bedeutungslos. Deshalb versuche ich die Zeit, verstanden als Regenerationszeit, als alternative Maßeinheit ins Spiel zu bringen. Ein jedes hat seine Zeit. Und es wäre möglich, ein jedes so aufeinander zu beziehen, dass man Zeit teilt, ohne sie zu verlieren. Es handelt sich um kein Nullsummenspiel. Dergleichen tun wir, wenn wir gegenüber einem Baum atmen. Dabei entsteht wechselseitig Zeit: Man kann gut weiterleben, weil man mit ausreichend Sauerstoff versorgt ist. Viele gängige Theorien der Vergangenheit kürzen die Ökologie als bloßen Hintergrund aus gesellschaftstheoretischen Überlegungen heraus. Die Frage lautet aber, wie zieht man dergleichen ins Denken herein? Am ehesten als eine Form der Selbsttätigkeit, der Regenerationsfähigkeit, an der wir alle teilhaben.

STANDARD: Gehen Sie nicht das Risiko ein, mit Ihren Denkanstößen an der herkömmlichen Schulphilosophie vorbeizuoperieren?

Redecker: Ich gehe dieses Risiko sogar mit diebischer Freude ein.

STANDARD: Entzündet sich die Kritik an Ihren Thesen nicht an der räumlichen Vorstellungswelt, der wir den Begriff der Zeit üblicherweise zuordnen?

Redecker: Die liberale Freiheit würde ich als zeitblinde Auffassung kritisieren, die den bloßen Moment bemisst. Es gibt andere Freiheitsvorstellungen, die weitaus zeitlicher gedacht sind, denken wir an hegelianische und marxistische Vorstellungen davon, dass die Freiheit sich in einem gerichteten Geschichtsprozess verwirklicht. Das ist die Auflösung der Metapher von der Lokomotive von vorher: der Glaube, man könne dieser Geschichte eines Tages Herr werden.

STANDARD: Es wäre ein gerichteter Fortschritt?

Redecker: Ja, vektoriell gerichtet, und uniform. Ein Gang, durch den die ganze Menschheit hindurch soll. Dieses Denken befindet sich in der Krise. Man sieht das auch daran, dass die Stellung der Arbeit, die menschliche Freiheit bedingen sollte, zweideutig geworden ist. Wir können die Produktionsarbeit nicht mehr als Motor des Wohlstands in eine lineare "Geschichte" eintragen. Sondern wir sehen: Es handelt sich auch um eine Unheilsgeschichte. Von der Industriearbeit dachte Marx noch, sie schaffe Reichtum, der bloß in die richtigen Hände übertragen gehört. Heute hat sie die Ressourcen für ihre Fortführung aufgebraucht. Sie hat toxische und klimaverändernde Substanzen abgespalten, die jetzt in der Welt sind. Selbst wenn wir morgen anfingen, anders zu produzieren, blieben wir mit der Zerbrechlichkeit der natürlichen Grundlagen konfrontiert und müssten uns um Reparatur und Entsorgung und Abkühlung kümmern. Deshalb versuche ich, der Regeneration eine eigene Zeitlichkeit abzugewinnen.

STANDARD: Das wäre der Paradigmenwechsel?

Redecker: Zumindest wäre es eine Alternative zu liberalen Konzeptionen, die die Natur als schützenswertes Gegenüber auffassen, vor dem man sich zurückziehen soll, oder ihr Rechte antragen, als könne sie für sich selbst sorgen und zugleich noch für uns bewohnbar bleiben. Ich möchte die Idee einer Befreiung der Natur materialistisch denken, als die Befreiung ihrer Selbsttätigkeit. Gibt es so etwas wie die Arbeit der Natur? Ich denke, ja. Sie unterscheidet sich grundlegend von der menschlichen. Die Natur fabriziert nicht nach Plan, sondern stellt sich in ökosystemischen Gleichgewichten wieder her. Es handelt sich bei der Natur nicht um identisch wiederkehrende, stupide Zyklen, sondern um variantenreiche, die ineinander verwoben sind. (INTERVIEW: Ronald Pohl, 2.9.2023)