Wolf Haas
Wolf Haas über die Geschichten seiner Mutter: "Ich weiß alles. Auch noch die Sachen, die sie vielleicht schon lange vergessen hat."
Hassiepen

Das Altersheim, in dem Marianne Haas stirbt, beherbergte früher einmal die Geburts­kli­nik, in der rund 60 Jahre zuvor ihre Söhne zur Welt gekommen sind. Und weil der eine von ihnen Wolf Haas heißt, vor allem für seine Brenner-Krimis und deren lakonischen Witz bekannt und verehrt, fasst er diesen Umstand in den knappen Satz: "Man hatte irgendwann die Zeichen der Zeit erkannt" und das eine ins andere "umgemodelt". Hier sitzt nun der Autor Tag für Tag am Bett der Mutter und sieht sich mit der Bitte konfrontiert, dort, wo ihre Eltern schon seien, wie immer es dort auch heiße, anzurufen und ihnen zu bestellen, es gehe ihr gut.

Mit Eigentum hat Haas ein Buch über das Sterben seiner Mutter im Jahr 2018 geschrieben. "Sie war jetzt ein sehr dünnes Vogerl", fängt er den Zustand der Gebrechlichen ein, als "verdämmernd" bezeichnet er sie auch. Die knapp 150 Seiten beginnen drei Tage vor ihrem Tod, und dessen Nahen ist beiden bewusst. An Humor fehlt es dem Band aber nicht, das ist eines der Kunststücke daran.

Humor als Kunststück

So entfaltet die Bitte nach dem Anruf im Jenseits noch einmal ganz eigenen Witz, hat man erst bis zu der Stelle weitergelesen, an der Haas erzählt, wie wichtig das Telefon, das die Mutter einst aus der ihr nicht auszuredenden Angst vor hohen Kosten abgelehnt hatte, später für sie wurde, um Kontakt mit den Söhnen zu halten: "Die Gespräche bestanden nur aus der gegenseitigen Versicherung, dass es einem gut ging. Egal, wie es einem wirklich ging, es ging immer gut. Aber es musste doch täglich gesagt werden. Es konnte ja etwas passieren." Der Rest ist Seufzen.

Passiert ist im Leben der Mutter gerade in den frühen Jahren einiges. Haas verschneidet die letzten Tage mit dieser Lebensgeschichte, die 1923 in Maria Alm in Salzburg beginnt. Im Duktus der Mutter erzählt der Autor, was er zuvor schon hunderte Male aus ihrem Mund gehört hat: Wie sie im Krieg zur Flugwache eingezogen wird und nach dem Krieg für die amerikanischen Befreier in der Briefzensur arbeitet. Wie sie aus Geldnot die Hotelfachschule abbricht und zur Arbeit in die Schweiz geht, aber ihren Verdienst der Familie schickt, damit die Eltern ein Haus bauen können. Als sie mit 32 Jahren und schwanger mit dem ersten Sohn heimkehrt, muss sie sich zwei Zimmer darin erstreiten. Die Heirat? Keine aus großer Liebe.

Hyperinflation

Etwas, das nie passiert ist, gibt dem Buch hingegen den Titel: Die Hyperinflation ihres Geburtsjahres hatte ihren Großvater den Hof gekostet. Eigentum aufzubauen wird in Folge zum Traum von Marianne Haas. Am Beispiel von 1000 Quadratmetern Baugrund und dessen inflationsbedingten Preissprüngen lernt der Bub schon vor der Schule rechnen. Denn immer, wenn die Mutter das Geld zusammenhat, ist Land wieder teurer geworden.

Also zieht die Familie 1972 in die Wohnung, um deren Erhalt die Mutter in einem selbstbewussten Brief die "Herren" von der "RAIKA- u. Gemeindevorstehung" bittet. Der Blick von dort geht für die nächsten Jahrzehnte hinunter auf den Friedhof, wo sie nun begraben wird. Ein Leben auf engstem Raum. So schließen sich im Buch laufend Kreise.

Wo sein Sound herkommt

Maxim Biller hat erst vor kurzem Mama Odessa über den Tod seiner Mutter veröffentlicht. Im Vergleich damit wirkt Eigentum gerührter und direkter. Seine Arbeit als "Lagerist und Gabelstapelfahrer" für die mütterlichen Erinnerungen betreibt Haas liebend, aber nicht kitschig. "Selbstzensur" hat er sich verboten, bemüht sich um Ehrlichkeit, weiß und lässt zu, dass die Mutter Scham empfand, Menschen mied. Dass ein "schwieriger Mensch" aber nicht unsympathisch sein muss, hat Haas mit dem Ermittler Brenner gezeigt – es gilt auch für die Mutter.

Ob Haas Friedhofsbesucher als "Motorradwitwen" tituliert, er seinen Erzählsound als "kleiner Dreck" beim Lamento der Mutter aufgeschnappt hat, ob er der Alten keine frechen Antworten mehr gibt, weil sie keine Zeit mehr hätte, so lange beleidigt zu sein, dass sie wieder "auf Gleich" kämen, oder er einen Besuch am Grab des Vaters noch vor dem Tod der Mutter mit den Worten "Einzeln war es immer viel einfacher mit ihnen" kommentiert – als Autor bricht der Sohn mit Humor die Schwere auch für Leser. Er wäre sonst nicht Wolf Haas – Sohn einer resoluten Frau, die im Inneren mehr funkelte als von außen zu erahnen. (Michael Wurmitzer, 5.9.2023)