Sidney Lumet
Sidney Lumets Werk ist stark mit seiner Stadt New York verbunden.
Filmmuseum

Von New York sagte man früher gern, es sei die Hauptstadt der Welt. Das hatte auch mit dem Kino zu tun. Die Skyline, die Straßenschluchten, die Brücken zwischen den Boroughs, die ratternde U-Bahn – alles filmreif.

Ein Regisseur wie Martin Scorsese musste nur vor die Tür gehen. Es gibt aber einen Filmkünstler, der mit New York vielleicht noch stärker verbunden war: Sidney Lumet (1924–2011). Wenn man einen Chronisten der Stadt an der amerikanischen Ostküste nach dem Zweiten Weltkrieg sucht, dann war es dieser Sohn eingewanderter Juden aus Polen. Ein Mann, der das Kino als moralische Anstalt verstand, ohne selbst zu moralisieren.

Zum Beispiel Dog Day Afternoon (1975): Al Pacino spielt einen Bankräuber in Brooklyn. Alles geht schief, Geiseln werden genommen, die ganze Stadt sieht zu, wie ein Drama sexueller Identitäten erkennbar wird. Denn die Beute soll dazu dienen, dass der Geliebte des Haupttäters sich einer "sex-change operation" unterziehen kann.

Das war für die Zeit ungewöhnlich explizit, aber Lumet inszenierte den ganzen Film so, dass das, was man heute Identitätspolitik nennen würde, wie ein Aspekt eines größeren Stressphänomens erkennbar wurde. Man könnte es den Kapitalismus nennen, der sich unantastbar zu machen begann.

Max

Das Österreichische Filmmuseum zeigt nun im September eine umfangreiche Auswahl aus den über vierzig Filmen Sidney Lumets. Seine Klassiker wie The Pawnbroker (1964, über einen KZ-Überlebenden), The Verdict (1982, Paul Newman als Anwalt, der sich noch einmal derrappelt) oder der schonungslose letzte Film Before The Devils Knows You’re Dead (2007, mit Philip Seymour Hoffman) sind alle dabei, wie auch der Film, mit dem Lumet im Kino reüssierte: 12 Angry Men (1957), ein Gerichtsdrama mit Henry Fonda.

Eigene Schauspielschule

Daneben gibt es aber auch noch einiges zu entdecken. Zum Beispiel Equus (1977), in dem Richard Burton einen Psychiater spielt, der es mit einem jungen Patienten zu tun bekommt, der sechs Pferden die Augen ausgestochen hat. Vorlage war ein Stück von Peter Shaffer (dem Autor von Amadeus). In Equus sieht man einen anderen Lumet, einen Bildungsbürger, der sich an den großen Dramen misst – an Ödipus und Hamlet.

Sidney Lumet
Mit "12 Angry Men" von 1957 startete Sidney Lumet seine Kinokarriere.
Filmmuseum

Es gibt auch einen Tschechow von ihm (The Sea Gull, 1968), in dem er sich als Schauspieler-Regisseur zeigt – in jungen Jahren war Lumet mit dem Actors Studio in New York verbunden, erlebte dort aber eine Enttäuschung und eröffnete danach selbst eine kleine Schauspielschule.

Wie er mit Ensembles umging, kann man zum Beispiel sehr schön in The Anderson Tapes (1971) sehen: Sean Connery spielt da die Hauptrolle, daneben erstmals in größerer Rolle Christopher Walken sowie Martin Balsam. Lumet zeigt in The Anderson Tapes, wie das Verbrechen des kleinen Mannes (Raub, Einbruch) zunehmend chancenlos wird gegenüber einem technologisch aufgerüsteten Staat.

Was fehlt?

Die Auswahl des Filmmuseums ist reichhaltig, unweigerlich gibt es allerdings Lücken: So ist es schade, dass The Wiz nicht enthalten ist, Lumets Neuverfilmung des amerikanischen Sentimentalklassikers The Wizard of Oz. Das Zauberland lag für Lumet in Lower Manhattan, am World Trade Center, Dorothy war ein schwarzer Popstar: Diana Ross.

Rotten Tomatoes Classic Trailers

Beispiele aus der Frühzeit Lumets, der mit Live-Fernsehen begann, hätten auch Kontext geboten. You Are There hieß damals eine Reihe, die versprach, man könne etwa beim Tod von Sokrates "dabei" sein. Lumet lernte im Fernsehen jene Intensität, die er später immer wieder auf den Straßen von New York suchte. Sein Werk führte vom kleinen zum großen Kino, nicht umgekehrt. (Bert Rebhandl, 5.9.2023)