Die Diskussion über China schwankt zwischen vorbehaltloser Bewunderung und unheilvoller Prophetie. In diesem Land wurde seit 1978 immerhin eine siebenfache Steigerung des Bruttoinlandprodukts erreicht – es stieg von einem Zehntel auf drei Viertel der US-amerikanischen Wirtschaftsleistung.

Auch wenn die Steigerung der Produktivität durch die Anwendung der im Ausland bereits entwickelten Technologie beachtet werden muss, war der Sprung nach vorn außergewöhnlich. Bis vor kurzem galt China sogar als Lokomotive der Weltwirtschaft.

Evergrande
Hochverschuldet ist der chinesische Immobilienentwickler Evergrande.
AFP/STRINGER/China OUT

Seit Anfang dieses Jahres erlebt man statt des erwarteten Aufschwungs nach der Corona-Epidemie nur schlechte Nachrichten, die sogar eine ungewöhnliche Nachrichtensperre erzwingen: Die Statistikbehörden hörten einfach auf, Daten über die schwachen Verbraucherausgaben und die erhöhte Jugendarbeitslosigkeit zu veröffentlichen. Vor allem die Krise im Immobiliensektor mit einem Anteil von 30 Prozent an der chinesischen Wirtschaftsleistung ist besorgniserregend. Die mit 300 Milliarden US-Dollar verschuldete Immobilienfirma Evergrande verhandelt mit ausländischen Gläubigern über eine Umschuldung und beantragte in New York Gläubigerschutz. Viele andere Immobilienfirmen werden als pleite betrachtet. Baufirmen und Zulieferer könnten bald auch in den Abgrund gerissen werden. Jeder fünfte Jugendliche ist arbeitslos (16 bis 24 Jahre). Mit den im Haushalt angemeldeten Jugendlichen erreicht die tatsächliche Rate laut Korrespondentenberichten fast 50 Prozent.

Viele Beobachter sehen den Hauptgrund für die Krise in der Person und Politik des Staats- und Parteichefs Xi Jinping, der seit seiner Wahl beim Parteikongress 2012 zum Alleinherrscher mit unbegrenzter Amtsdauer geworden ist. Henry Kissinger, der kürzlich nach seinem 100. Geburtstag ein freundliches Gespräch mit Xi in Peking geführt hat, warnt in seinem jüngsten Buch Staatskunst: "In Krisenzeiten kann das bloße Management des Status quo der gefährlichste Kurs überhaupt sein." Xis Linie – "Die Partei führt alles" – wird durch den Vorrang des Staatssektors und verschärfte Repressionsmaßnahmen unterstrichen. Seine Aussagen wie "Wohnungen sind zum Wohnen da, nicht zum Spekulieren" sind kaum geeignet, das Vertrauen der Unternehmen, der privaten Haushalte und der Auslandsinvestoren wiederherzustellen.

Es gibt aber auch frühere strukturelle Ursachen für die Krise. Seit 2015 schrumpft die arbeitsfähige Bevölkerung. Statt Förderung des Konsums und des Privatsektors wurden Investitionen und die Rüstungsausgaben forciert. Xis dritte Amtszeit begann mit dem unerklärten Verschwinden des von ihm favorisierten und ernannten Außenministers und der ebenso ohne Kommentar erfolgten Ablöse der Führung der nuklearen Raketengruppe.

US-Präsident Joe Biden verglich China mit einer "tickenden Zeitbombe". Die Panikmache über die Erschütterung der Weltwirtschaft ist aber unbegründet. Chinas Importe aus den USA entsprechen nur einem Prozent von dessen BIP, und selbst das am stärksten engagierte Deutschland exportiert zum Beispiel mehr in die vier Visegrád-Staaten (Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn) als nach China. (Paul Lendvai, 4.9.2023)