"Ich unterrichte im 20. in der Staudingergasse Mathematik, BE und Theater. Lehrerin zu werden war eine pragmatische Entscheidung. Ich war Alleinerzieherin und musste etwas finden, das kompatibel mit einem Kind ist. Mit den Dingen, die ich gerne gemacht hätte, hätte ich kein Geld verdient. Schreiben zum Beispiel oder etwas mit Kunst. Ich habe Kunst studiert. Dann habe ich mich für den Lehrberuf entschieden. Mit 32 war ich mit der Pädak fertig und bin ruck, zuck eingestiegen. Zuerst in einer Schule im 14., dann wechselte ich in den 20. Bezirk. Jetzt bin ich fast 30 Jahre Lehrerin und habe noch vier Jahre bis zur Pension.

Ich hadere mit dem System. Im Prinzip wird in der Schule Anpassung bewertet. Wer sich am besten anpasst, kommt am weitesten. Die ruhigen Schüler:innen werden immer mitgenommen, da werden die Noten auch geschenkt. Bei den auffälligeren redet man dann plötzlich von Notenwahrheit. Aber das gibt es meines Erachtens nicht, diese Ziffern sind nicht objektiv. Es gibt Kolleg:innen, die einen Vierer in Zeichnen geben. Weil die Kinder nichts tun. Aber sie tun auch nichts, wenn sie den Vierer kriegen. Noten motivieren nicht. Das ist Kriegssprache. Man gibt ihnen einen Fünfer als Schuss vor den Bug. Das ist ihnen wurscht. Und das ist die Wurschtigkeit, die ihnen unterstellt wird.

Lehrerin Mittelschule Maria Lodjn Gespräch Rassismus Wien
Maria Lodjn war Quereinsteigerin. Die heute 61-Jährige unterrichtet Mathematik, BE und Theater.
Foto: Kevin Recher

Für immer die anderen

Latenten Rassismus gibt es in allen Schulen. Wir haben in unserer Schule 95 oder 98 Prozent Migra-Kids. Sie kommen vom Balkan, aus Rumänien, aus der Türkei, wir haben auch Tschetschenen und ukrainische Flüchtlingskinder. Den Kindern wird gesagt, sie müssten sich wegen ihres Migrationshintergrunds doppelt anstrengen. Nur, ganz viele Schüler:innen wachsen im 20. prekär auf. Das wird nicht gesehen. Sie haben einfach wenig Chancen, mit ihrer Migrationsbiografie einen Bildungsaufstieg zu schaffen. Das ist alles so gemein.

Es heißt immer, die Eltern wollen nicht und haben kein Interesse. Ich habe noch nie Eltern erlebt, die kein Interesse haben – im Gegenteil. Die Kinder stehen massiv unter Druck, denn die Eltern wollen unbedingt, dass sie einen angesehenen Beruf erlangen.

Die Kinder werden aber immer die anderen bleiben. Wir waren vor kurzem in der Steiermark auf Projektwoche. Als Wiener Mittelschule wurden wir irrsinnig argwöhnisch angeschaut. Das spüren unsere Schüler:innen, die sind ja nicht blöd, die haben Antennen. Da hat's geheißen: 'Na servas, ihr habt's schon ein paar Kaliber dabei, das sieht man sofort.' Man sieht nur, dass sie eine andere Hautfarbe haben. Und auf das werden sie komplett reduziert.

Das ist auch die Haltung, mit der die Kolleg:innen in die Klassen reingehen. Es gibt viele rassistische Lehrer:innen. Natürlich verhalten sich die Kinder auch schräg. Aber sie haben nichts zu verlieren. Man traut ihnen nichts zu, man glaubt ihnen nicht. Meine 13-jährigen Schüler werden jeden Tag von der Polizei kontrolliert. Das ist deren Alltag.

WLAN und Wurzelziehen

Als Lehrerin brauche ich nicht zu jammern. Da verlangen manche hitzefrei, obwohl sie dann neun Wochen Sommerferien haben. Was wollens bitte? Eine geschütztere Werkstätte, als Lehrerin zu sein, gibt es nicht. Es ist auch nicht schlimm, Lehrerin in Wien zu sein. Das ist eine unfaire Aussage gegenüber den Kindern.

Unser Schulsystem ist veraltet und holt unsere Schüler:innen nicht mehr ab. Die Digitalisierung klappt nicht, da wir einfach zu wenig ausgebildete Leute haben. Es gibt kein Lehramt für Digitalisierung. Das ist der größte Pfusch zwischen hier und Südwest-Texas. Das WLAN in der Schule bricht zusammen, wenn drei Klassen auf Youtube sind. Da gehört Geld reingesteckt. Die Kinder müssen zukunftsfit gemacht werden, das ist unsere Aufgabe.

Irgendwie sind wir 1972 steckengeblieben. Es gibt noch immer dieses streng geteilte Schulsystem. 50 Minuten Unterricht, zehn Minuten Pause, das ist ein Erbe aus der Kaiserzeit. Die Schule ergibt auch keinen Sinn. Alles ist so abstrakt. Ich kenne kaum Leute, die etwas Gegenteiliges sagen. Wenn, dann hatten sie einen Lehrer oder zwei Gegenstände, die cool waren.

In Mathe zum Beispiel wird Spezialwissen abgefragt, das du nie wieder brauchst. Das sage ich als Mathematiklehrerin. Wenn die Kinder mich fragen, wozu sie das oder jenes brauchen, sage ich mittlerweile: 'Du brauchst es jetzt für deinen Abschluss.' Over and out. 'Und werde ich das mal brauchen?' 'Glaub' ich eher net. Außer du willst Mathematik studieren.' Konkret Wurzelziehen – ich kann mich nicht erinnern, das irgendwo aktiv eingesetzt zu haben.

Mehr Freiraum

Eine ideale Schule würde für mich rein unterrichtstechnisch damit aufhören, in Gegenstände zu trennen. Nicht Geografie, Physik extra, sondern ein Gesamtding zu schaffen, wo jeder zusammenarbeitet und etwas beiträgt. Kleinere Klassen und weg von den Noten. Theater im Curriculum wie in Hamburg würde ich mir persönlich wünschen.

Schüler:innen sollten das Recht haben, sich zurückziehen zu können oder mitreden können. Schule ist antidemokratisch. Sie lässt überhaupt keinen Diskurs zu. Sie lehrt keine Eigenverantwortung. Und wir wundern uns bei Corona, dass das niemand zusammenbringt. Woher auch? Es gibt auch null Freiraum. Wenn man aufschreit, ist man sofort Systemsprengerin. Aber die Schüler:innen sind nicht mehr so angepasst, und da braucht es einfach Räume, um zu schauen, was sie brauchen und wie ich damit umgehe.

Gehirnmasse teilen

"Früher war alles besser" ist doch völliger Quatsch. Ich bin 1972 ins Gymnasium gekommen. Wir haben uns vor den Lehrer:innen nur gefürchtet. Klar haben die Kinder früher die Klappe gehalten, aber aus Angst. Solche Klassen zu unterrichten war wahnsinnig bequem, du musstest wenig disziplinieren, du konntest dein Programm fahren. Wenn jemand etwas nicht verstanden hat, waren die Schüler:innen zu deppert. Eine Kollegin hat von ihrer Oma erzählt, die am Schulweg immer gebetet hat, dass die Lehrerin tot umfällt. So sehr hat sie sich gefürchtet. Damals war nichts besser. Ich bin froh, dass es jetzt so ist, wie es ist.

In den 30 Jahren als Lehrerin hätte ich mich viel früher auf die Beine stellen sollen. Ich habe dieses System auch lange mitgetragen. Ich hatte in den ersten Dienstjahren unheimliche Struggles, weil ich zu nett war. Tipps von Kolleg:innen habe ich zu ernst genommen, ich war auch immer um Anpassung bemüht, anstatt meinen eigenen Weg zu finden. Ich habe zu oft die Klappe gehalten.

Die Junglehrer:innen heute sollten sich vom Gejammer nicht mitziehen lassen. Wir haben auch ganz viele junge Kolleg:innen, die von Stunde eins an über die Schüler:innen herziehen. Wir sollten vielleicht ein bisschen nachdenken und reflektieren, warum wir eigentlich zum Unterrichten angefangen haben. Nur weil ich meine göttliche Gehirnmasse teilen will, kann’s ja nicht sein." (Kevin Recher, 11.9.2023)