Das war dann doch eine Überraschung. Lange Jahre war aus der ÖVP im Zusammenhang mit ganztägiger Kinderbetreuung vor allem von "Wahlfreiheit" zu hören. Also: Frauen sollten "frei" entscheiden können, so das Wording, ob sie länger beim Kind zu Hause bleiben oder ob sie arbeiten gehen und ihr Kind tagsüber in Betreuung geben. Wegen des großflächigen Mangels an Kinderbetreuungsplätzen hierzulande war es mit der tatsächlichen Wahlfreiheit aber nicht allzu weit her – bei den EU-Zielen insbesondere zur Kleinkinderbetreuung hinkt Österreich traditionell hinterher.

Für eine bessere Quote bei der Betreuung von Kindern müssten noch mehr Mittel fließen, heißt es vom Wifo.
Heribert Corn

Anfang der Woche kündigte Kanzler und ÖVP-Chef Karl Nehammer im ORF- Sommergespräch dann an, den Ländern 4,5 Milliarden Euro bis 2030 zur Verfügung stellen zu wollen, um die Betreuungslücke im Alter zwischen ein und drei Jahren zu schließen. Die Zahl sei das Ergebnis einer Analyse, die man mit dem Wirtschaftsforschungsinstitut EcoAustria erstellt habe.

Am Dienstag stellte sich dann Familienministerin Susanne Raab (ÖVP) vor die Presse, um das Versprechen etwas näher zu beleuchten. 50.000 zusätzliche Plätze könnten bis 2030 geschaffen werden, sagte sie. Bei den Ein- bis Zweijährigen seien 27 Prozent in Betreuung, in Zukunft solle für über 50 Prozent von ihnen ein Platz zur Verfügung stehen.

Bund will bei Personalkosten zuschießen

Bei den Zwei- bis Dreijährigen seien rund 60 Prozent in Betreuung, 90 Prozent von ihnen sollen künftig einen Platz erhalten. Hingegen seien nur zwei Prozent der Kinder unter einem Jahr in Betreuung. Hier bestehe vielfach der Wunsch, das Kind zu Hause zu betreuen, sagte Raab, die dennoch auch für die Kleinsten mehr Plätze schaffen will.

Offen ist indessen, woher das Personal kommen soll. Wie in vielen Branchen herrscht auch bei Elementarpädagoginnen und Elementarpädagogen teils akuter Mangel an Arbeitskräften. Nehammer kündigte jedenfalls an, der Bund werde die Länder nicht nur beim Ausbau der Plätze, sondern auch bei den Personalkosten finanziell unterstützen.

Ein Pädagoge für 25 Kinder

Wie viel mehr Geld pro Jahr für Kinderbetreuung die angekündigten 4,5 Milliarden bedeuten würden, lässt sich nicht genau aufschlüsseln, heißt es aus dem Büro der Familienministerin. Denn weil die Kindergärten grundsätzlich in die Kompetenz der Länder fielen, verfüge man über keine exakte Zahl der bundesweiten Ausgaben.

Wifo-Expertin Silvia Rocha-Akis verweist im STANDARD-Gespräch darauf, dass in den angekündigten 4,5 Milliarden auch Ausgaben für die Ausbildung von Fachkräften inkludiert seien. Zudem müssten für eine Ausweitung von Betreuungsplätzen auch neue Räumlichkeiten geschaffen werden.

Für eine tatsächliche Erhöhung der Betreuungsquote sei es zudem relevant, wie sich die Zahl der Kinder entwickelt – in den vergangenen Jahren habe sich das Wachstum der Gruppe der bis Vierjährigen etwa beschleunigt. Wenn auch der Betreuungsschlüssel verbessert werden solle, müssten wohl noch deutlich mehr Mittel fließen. Aktuell würden etwa in Wien ein Pädagoge oder eine Pädagogin plus eine Assistenzkraft auf 25 Kinder treffen, rechnet die Expertin vor.

Tirol prescht bei Rechtsanspruch vor

Mit den Ländern ausverhandelt ist der ÖVP-Vorschlag ohnehin noch nicht. Aktuell wird um den Finanzausgleich gerungen, sprich darüber, wie staatliche Einnahmen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden aufgeteilt werden. Die Bundesländer sind jedenfalls für die Bezahlung der Elementarpädagoginnen und -pädagogen, das Festlegen von Gruppengrößen und den Ausbau der Betreuungsplätze zuständig.

Die grüne Nationalratsabgeordnete Barbara Neßler forderte jüngst eine Kompetenzverschiebung auf Bundesebene oder zumindest einen einheitlichen Qualitätsrahmen. Gegenüber dem STANDARD begrüßt sie den "finanziellen Anschub". Man habe sich aber "viel zu lange auf das alte Denken verlassen ‚die Mama bleibt eh daheim‘. Diese Zeiten sind vorbei", sagt Neßler.

Den Rechtsanspruch auf einen Kinderbetreuungsplatz, wie er in Tirol als einzigem Bundesland von der schwarz-roten Landesregierung koalitionär paktiert wurde, begrüßt die Tirolerin. Bislang liege hier allerdings noch "nichts auf dem Tisch".

Aus dem Innsbrucker Landhaus war auf STANDARD-Anfrage zu hören, dass der Fahrplan für das Vorhaben bis Ende des Jahres stehen und der genaue Bedarf bis dahin erhoben sein sollte. Bis zum Ende der Legislaturperiode solle dann auch der Rechtsanspruch umgesetzt sein. Man sieht Tirol in der "Vorreiterrolle". Das Thema werde eines der zentralen Themen bei der Regierungsklausur Mitte September sein.

Landeshauptmann Anton Mattle und Bildungslandesrätin Cornelia Hagele (beide ÖVP) weilen gerade in Finnland, wo sie sich, im Beisein einer Tiroler Delegation, im Bereich der Kinderbildung und -betreuung inspirieren. Eine Stellungnahme gabs auf STANDARD-Anfrage trotzdem. Einer Kompetenzverschiebung steht man ablehnend gegenüber. "Was in den Ländern gelöst werden kann, soll auch in den Ländern gelöst werden". Tirol zähle mit einem Betreuungsschlüssel von 1:10 auch bei der Qualität zu den Vorreitern in Österreich.

"Direkter Weg zur Zwangsarbeit"

Kanzler Nehammer schloss im Sommergespräch nicht aus, dass ein Rechtsanspruch auf einen Kinderbetreuungsplatz auch bundesweit kommen könnte. Voraussetzung dafür sei aber, dass die entsprechende Infrastruktur und genügend Arbeitskräfte für den Bereich dann bereits vorhanden seien. Familienministerin Raab formulierte die türkisen Zweifel an der Umsetzbarkeit tags darauf deutlicher: "Rechtsanspruch" sei ein politisches Schlagwort. Würde er aktuell eingeführt, ginge er "einfach ins Leere".

Das sieht man in Tirol naturgemäß anders: Dort gehe man "aufgrund der guten Vorbereitungen im Bundesland bereits den nächsten Schritt". Sprich: bestehende Versorgungslücken schließen und das Angebot, das in den vergangenen Jahren "massiv ausgebaut" worden sei, auch "in Richtung ganzjährig und ganztägig" auszubauen.

Grüne, SPÖ und Neos sprachen sich in der Vergangenheit für einen Rechtsanspruch aus, die FPÖ und ÖVP dagegen. Aufmerksamkeit erregte im Juni ein Sager des oberösterreichischen ÖVP-Klubobmanns Christian Dörfel, der in der Forderung der Opposition nach einem Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr den "direkten Weg zur Zwangsarbeit junger Mütter" sah. Das schwarz-blau regierte Oberösterreich ist übrigens Schlusslicht bei der Betreuung der unter Dreijährigen.

Deutsche Kita-Krise

In Deutschland gibt es übrigens seit 2013 einen Anspruch für Kinder ab einem Jahr auf einen Platz in einer Tageseinrichtung oder in der Kindertagespflege. Eigentlich. Die Realität sieht nämlich anders aus. Gemäß einem Bericht des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) fehlten im Jahr 2020 deutschlandweit 342.000 Betreuungsplätze für unter Dreijährige – Tendenz steigend.

Viele Eltern melden sich dort schon für einen Kitaplatz an, während sich noch der Bauch unter dem T-Shirt wölbt und der Nachwuchs noch gar nicht das Licht der Welt erblickt hat. Vermittlungsprämien werden gezahlt, Leitungspersonal umschmeichelt, Namen in zahlreiche Wartelisten eingetragen. Immer mehr Eltern klagen einen Kindergartenplatz ein. Doch wenn einfach kein Platz zur Verfügung steht, ändert auch eine Klage nichts. Der Österreichische Gemeindebund lehnt einen Rechtsanspruch ab und begründet seine Haltung auch mit der Situation im Nachbarland. (Maria Retter, Martin Tschiderer, 6.9.2023)