Ars Electronica
Ayoung Kims "Delivery Dancer's Sphere erhielt den Prix Ars Electronica 2023.
Ayoung Kim

Im ersten Moment wirkt das diesjährige Ars-Electronica-Motto, "Wem gehört die Wahrheit?", beinahe provokant. Hat die Postmoderne doch jahrzehntelang versucht, den Begriff Wahrheit zusammen mit dem der Wirklichkeit zu entsorgen. Alles nur Erzählungen, heißt es. Wladimir Putin, Nigel Farage, Donald Trump und Konsorten sind dankbar dafür. Laut ihrer Eigeneinschätzung als weltgrößte Veranstaltung ihrer Art hatte die Ars im Vorjahr gut 71.000 Besucherinnen und Besucher, die sich für digitale Kultur an den Schnittstellen von Kunst, Technologie und Gesellschaft interessierten. Nicht schlecht für fünf Festivaltage.

Die aktuelle Ausgabe präsentiert sich bis Sonntag in der Post City beim Linzer Hauptbahnhof als Veranstaltungszentrum sowie an zwölf weiteren Orten, darunter ist das Lentos, die Kunst-Uni Linz und das Ars Electronica Center. Auffälligerweise lässt das spätestens seit 2018 sukzessive bescheidener gewordene Abfeiern von künstlerisch leeren Triumphen der digitalen Technologie noch mehr nach. Wenig überraschend werden kuratorisch Themen wie Geschlechter- und Kolonialismusdiskurs tangiert, doch das Augenmerk richtet sich tatsächlich eher auf die große Krise: Naturzerstörung, Artensterben und Klimaerhitzung.

Fatale Verhältnisse

So hat der Ire Richard Mosse mit seinem farbgewaltigen Videofilm Broken Spectre über die Vernichtung des Amazonas-Regenwalds den diesjährigen Starts-Preis gewonnen. Die Realität der fatalen Verhältnisse zwischen Mensch und Umwelt setzt die große Themenausstellung (Co)Owning More-Than-Truth unter Spannung. Sie mäandert durch das angenehm kühle Tiefgeschoß-Labyrinth und den Bunker des ehemaligen Postgebäudes.

Zu sehen sind dort unter anderem künstlerisch bearbeitete Dokumentarvideos auf Basis eingehender Recherchen wie in der Installation Brakfesten / La Grande Bouffe von Anne Duk Hee Jordan und Pauline Doutreluingne über das von Borkenkäfern verursachte Ulmensterben in Europa. Oder apparathafte Skulpturen, die den Missbrauch von Pflanzen aufzeigen, wie Alizée Armets Ghostly Plants of Damaged Worlds über zu Albinos mutierten Gewächsen, die kontaminierten Böden Schwermetalle entnehmen können. Dazu passt Michael Winterbergs fein gearbeitetes Gerät Melting – The Show Must Go On!, ein Kommentar zu dem durch Konsumverhalten mitverursachten Schmelzen der Gletscher und dem Auftauen der einstigen Permafrostböden.

Mikrolebensformen

Eine Arbeit, die geschickt über die klassische kinetische Plastik hinaus in Richtung einer kritischen Inszenierung von Schadensmessungen führt. Eine ästhetische Strategie, die zu pathetischen Altar-Installationen ausufern kann, wie Andy Gracies mit Massive Binaries zeigt, einer poetisch zugespitzten Verbindung zwischen Kollisionen von Neutronensternen und gegensätzlichen ideologischen Überzeugungen. Der künstlerische Blick richtet sich gar hinaus ins Weltall. Zum Beispiel mit dem Experiment Formata des Proto-Alien-Project, in dem eine auf der Erde gezüchtete "außerirdische" Mikrolebensform effektvoll ästhetisiert wird.

Ebenfalls auffällig: Der Anteil von nerdigen statistischen Animationen oder eher öden Schaubildtafeln unter den gezeigten Arbeiten scheint rückläufig zu sein. Noch immer allzu vorsichtig geht die Ars Electronica aber mit der Kritik an der durch Missbrauch schmutzig gewordenen digitalen Technologie um. Deren globale Irrwege werden zwar angesprochen, in der Gesamtschau bleibt allerdings viel zu wenig Platz für eine offensive Auseinandersetzung mit Cyberkrieg und Cyberkriminalität, Social-Media-Hetze und Faktenmanipulation, Demokratiebeschädigung, Kindesmissbrauchs-Websites oder Datenplünderung.

Digitaler Missbrauch

Wenn schon mit dem Schlagwort "Wahrheit" operiert wird, darf die Ars künftig noch anschaulicher werden. Die vielen Schattenseiten der digitalen Disruption in Vorworten, kleinen Installationen (Collectivize Facebook) oder Talks und Panels nur anzudeuten wirkt seltsam. Dass der Wille vorhanden sein könnte, in diese Richtung weiterzuwachsen, deutet Ayoung Kims Video Delivery Dancer's Sphere an. Die melancholische, an Neal Stephensons berühmtes Buch Snow Crash erinnernde Dystopie über Lieferkurierinnen hat den Prix Ars Electronica 2023 gewonnen.

Das Festival kann die Tatsache nutzen, dass die digitale Technologie nicht mehr schmackhafter gemacht werden muss, als sie es ohnehin schon ist. Wirklich zukunftsweisend wäre, zu zeigen, wie die Gesellschaften sich vor digitalem Missbrauch schützen und gegenüber Tech-Giganten emanzipieren können. (Helmut Ploebst, 7.9.2023)