Jaimie Branch
Jaimie Branch und ihr Genre- und Landesgrenzen sowie mentale Blockaden niederreißendes Instrument.
International Anthem

Wenn es denn wahr ist, flog Jaimie Branch im Alter von 14 Jahren aus ihrem Elternhaus in Chicago, weil sie es (irrtümlich?) in Brand gesetzt hatte. Die Geschichte passt natürlich wunderbar zur Musik einer kampfeslustigen, großen, unvollendeten Grenzland- und Freistilmusikerin, die im August 2022 im Alter von nur 39 Jahren in Brooklyn sehr wahrscheinlich dem lebenslangen Kampf mit ihrer Opiatabhängigkeit erlegen ist.

Nun liegt von ihr und ihrem Quartett, das sich Fly or Die nannte und die zwei praxisbezogen betitelten Alben Fly or Die sowie Fly or Die II: Bird Dogs of Paradise veröffentlichte, eine posthume Arbeit vor, deren Fertigstellung sie noch selbst überwachen konnte.

International Anthem

Die klassisch am New England Conservatory of Music geschulte Trompeterin beweist nun auf dem Label International Anthem erschienenen dritten Album Fly or Die Fly or Die Fly or Die (World War) noch einmal ihre Ausnahmestellung. Gemeinsam mit Schlagzeuger Chad Taylor, Bassist Jason Ajemian, Cellist Lester St. Louis sowie diversen Gästen und an diversem Instrumentarium, das hin bis zu einem Kleinkindspielzeug namens "Happy Apple" aus den 1970er-Jahren reicht, in rohen und meist unbehauen in einem Take im Nirgendwo von Nebraska eingespielten Stücken, wie wenig sie eigentlich mit dem Genre Jazz im klassischen Sinne zu tun hat. Zu dem wird sie gewöhnlich gerechnet.

Jazz bedeutet in ihrer Auslegung aber, dass es sich um Weltmusik ohne Grenzen handelt, dass Mauern und Grenzzäune niedergerissen gehören, wie sie auf Fly or Die II in einem ihrer besten Stücke, Prayer for Amerikkka Pt. 1 and 2, angesichts der ausgesperrten Flüchtenden an der Südgrenze der USA singt.

Ja, Jaimie Branch war neben ihrer Tätigkeit im Elektronikduo Anteloper auch Sängerin beziehungsweise deklamatorische Predigerin mit gern eingesetztem Wolfsgeheul. Sie sah sich als eine selbsternannte "psychedelische Kriegerin für den Frieden" – sowie im besten, etwas verstrahlten Free-Jazz-Sinn der alten Schule aus den 1960er-Jahren als "kosmischer Kurier". Der wollte mit seiner Trompete nicht nur die Mauern von Jericho zum Einsturz bringen, sondern den guten Leuten in der Stadt auch gleich einmal die Wadeln mit Spiritualität nach vorne richten und ihnen Schönheit einimpfen.

International Anthem

Im Stück Burning Grey auf dem neuen Album heißt es: "Trust me, just for a moment / Believe me, the future lives inside us / Don’t forget to fight, don’t forget to fight."

Die Trompete fungiert dabei als Engelshupe ebenso wie als auf die Erde niedersausender Götterhammer. Punk und Miles Davis, das Art Ensemble of Chicago, Evan Parker oder eine in Mexiko vor Schmalz triefende Mariachi-Trompete liegen ja nicht sooo weit auseinander.

Jaimie Branch - Topic

Guantanamera als kubanisches Volkslied wie als Protestgesang von Pete Seeger am Anfang, bevor es Bob Dylan gab, wird auf diesem Album im Stück Baba Louie ebenso zitiert wie in The Mountain die alten Lieblinge von Kurt Cobain, die Narrischen-Schwammerl-Punkrocker Meat Puppets mit Comin’ Down.

An anderer Stelle hören wir im Track Aurora Rising eine weltliche Kirchenorgel zur Andacht ladend und in Borealis Rising den Sonnengruß aus dem verrauchten Jazzclub. Take Over the World, das Punkrocklied mit einer zum letzten Gefecht blasenden Einheitsfrontlied-Trompete, sollte in uns allen gegen Schluss des Albums den dringenden Wunsch hervorrufen, der Politik wegen des Klimas eine zu kleben. Die ursprünglich zum Abschuss freigegebenen Wölfe heulen den Sieg. Wuuuuuuuuh! Gutes Karma, Leute. (Christian Schachinger, 9.9.2023)