Milchstraße durch die Neutrino-Linse
Die Milstraße aus der Linse von Neutrinos zeigt dieses zusammengesetzte Bild, das künstlerisch bearbeitet wurde.
Illustration: REUTERS/COLLABORATION/U.S. National Science Foundation (Lily Le & Shawn Johnson)/ESO (S. Brunier)

Unser Universum ist längst keine Unbekannte mehr für uns: Wir wissen, dass der Urknall vor 13,8 Milliarden Jahren stattgefunden hat und dass wir in einer scheibenförmigen Galaxie leben. Wir wissen, dass die Energie der Sonne durch Kernfusion entsteht und dass wahrscheinlich mehr Planeten als Sterne im Universum existieren. Trotzdem gibt es immer noch wahnsinnig viel, das wir nicht wissen, etwa warum es mehr Materie als Antimaterie im Universum gibt oder was es mit der rätselhaften Dunklen Materie auf sich hat.

Dazu, Antworten auf diese Fragen zu finden, könnten kosmische Teilchen einen Beitrag leisten. Vergangene Woche fand hierzu in Wien an der Akademie der Wissenschaften die weltweit größte Konferenz mit über 500 Teilnehmenden statt, darunter Physiknobelpreisträger Arthur McDonald. Sein Spezialgebiet sind Neutrinos, die so wenig mit der herkömmlichen Materie interagieren, dass sie manchmal Geisterteilchen genannt werden.

STANDARD: Sie wurden 2015 mit dem Physiknobelpreis ausgezeichnet für den Nachweis, dass Neutrinos Masse besitzen. Was macht Neutrinos so interessant, und wie können sie uns dabei helfen, das Universum besser zu verstehen?

McDonald: Neutrinos zählen zu den elementaren Bausteinen der Materie, die wir nicht weiter zerlegen können. In den nuklearen Reaktionen in der Sonne werden extrem viele Neutrinos erzeugt. Zu jener Zeit, als wir unsere Experimente begonnen haben, gab es ein Rätsel: Die Berechnungen zum Sonnenplasma ergaben viel mehr Neutrinos, als tatsächlich beobachtet werden konnten. Wir konnten das aufklären und damit Erkenntnisse zur Kernfusion liefern. Wir hoffen, dass sie eine Quelle für saubere Energie werden könnte.

Arthur McDonald
Physiknobelpreisträger Arthur McDonald bei seinem Besuch in Wien vergangene Woche.
Foto: Toppress/ Karl Schöndorfer

STANDARD: Waren mögliche Anwendungen wie Fusionsreaktoren für Sie eine Hauptmotivation für die Forschung zu Neutrinos?

McDonald: Das Hauptziel unserer Forschung besteht darin, zu verstehen, wie sich unser Universum entwickelt hat. Das ist eine existenzielle Frage, es geht nicht nur darum, wie wir Menschen so geworden sind, wie wir sind, sondern auch darum, wie alles so wurde, wie es ist. Es ist also eine Frage von grundlegendem Wert für die Menschheit. Es zeigt sich aber auch, dass die Erforschung solcher Fragen fruchtbar für die Technologieentwicklung ist.

Sudbury Neutrino Observatorium
Das Sudbury Neutrino Observatorium bei Ontario, Kanada, lieferte wesentliche Beiträge zum Physik-Nobelpreis 2015. Arthur McDonald ist Gründungsdirektor des zwei Kilometer unter der Erde befindlichen Sudbury Observatoriums, in diesem Foto seilt er sich gerade in der Forschungsanlage ab.
VOLKER STEGER / Science Photo Library

STANDARD: Was sind aktuell die größten ungelösten Fragen in der Neutrinoforschung?

McDonald: Es gibt zwei große offene Fragen. Erstens interessiert uns, ob es einen Unterschied zwischen Neutrinos und ihren Antiteilchen gibt. Die zweite Frage ist, ob das Neutrino sein eigenes Antiteilchen sein könnte. Hintergrund dieser Fragen ist, dass wir noch immer nicht wissen, warum es mehr Materie als Antimaterie gibt. Wir gehen davon aus, dass beim Urknall gleich viel Materie wie Antimaterie entstanden ist. Wir leben aber in einem Universum, in dem die herkömmliche Materie dominiert. Wo ist also die Antimaterie hinverschwunden? Neutrinos könnten uns darauf eine Antwort geben.

STANDARD: Sie sind auch am europäischen Kernforschungszentrum Cern tätig. Die Entdeckung des Higgs-Teilchens liegt mehr als zehn Jahre zurück. Woran wird dort aktuell geforscht?

McDonald: Das Cern ist eine beeindruckende Forschungsinstitution, es ist wunderbar, wie die Welt dort zusammengekommen ist. Aktuell beschäftigt man sich etwa mit Dunkler Materie: Wenn man in eine sternenklare Nacht schaut, gibt es in den dunklen Räumen zwischen den Sternen fünfmal so viel Masse wie in den Sternen selbst. Diese Dunkle Materie existiert mit großer Sicherheit. Wir wissen aber nicht, welche Form sie hat. Am Cern wird versucht, zum ersten Mal seit dem Urknall Dunkle Materie zu erzeugen.

Astronomische Aufnahme
Der rätselhaften Dunklen Materie auf die Spur zu kommen, ist auch Ziel der Euclid-Mission der Europäischen Weltraumorganisation Esa. Die Aufnahme zeigt ein Testbild, das am 31. Juli veröffentlicht wurde.
AFP/ESA/Euclid/Euclid Consortium

STANDARD: Einen Nobelpreis zu bekommen bringt große Veränderungen mit sich. Als Ihnen der Nobelpreis zuerkannt wurde, gab Ihnen Richard (Dick) Taylor, mit dem Sie befreundet waren und der ebenfalls einen Nobelpreis erhalten hatte, ein paar Tipps. Welche waren das?

McDonald: Zunächst hat er mir gesagt, dass jeder denken wird, dass ich als Nobelpreisträger alles über alles wüsste. Doch das ist natürlich nicht so. Das war ein wirklich guter Rat. Auch hat er mir gesagt, dass ich von Leuten hören werde, von denen ich seit der Grundschule nichts mehr gehört habe. Das war für mich einer der wunderbarsten Aspekte des Nobelpreises. Er hat mich auch vorbereitet, dass mir die Bekanntheit durch den Nobelpreis Türen öffnen wird und ich mit diesem Einfluss vorsichtig umgehen muss.

STANDARD: Welchen Rat haben Sie für junge Menschen, die überlegen, Physik zu studieren?

McDonald: Ich kann nur sagen, dass es ein wirklich faszinierendes und sehr grundlegendes Gebiet ist. Am Ende wird man vielleicht nicht unbedingt Wissenschafter werden, obwohl das ein wunderbarer Weg ist. Viele Absolventen machen dann aber ganz andere Dinge und sind in vielen Berufen tätig. Man lernt in der Physik, evidenzbasierte Entscheidungen zu treffen. Das ist eine Fähigkeit, die in vielen Bereichen gefragt ist und für die Gesellschaft sehr wertvoll ist. Ich werde auch oft von Studierenden gefragt, wie sie Karriere in der Wissenschaft machen können.

STANDARD: Und was antworten Sie ihnen?

McDonald: Ich habe zwei Ratschläge. Erstens: Sei neugierig und behalte dir diese Neugierde. Es ist unglaublich, wie sehr sich die Wissenschaft verändert hat gegenüber der Zeit, als ich 19 Jahre alt war. Da wurden die neuen IBM-Computer mit einem Kran über das Dach in die Physikabteilung gebracht. Zweitens: Sei nett. Man sollte nicht unterschätzen, wie viel man erreichen kann, wenn man tolle Kollegen hat. Ich hatte sehr viel Glück mit den Menschen, mit denen ich zusammengearbeitet habe. Ich habe einen Nobelpreis bekommen, aber nur wegen all ihrer Arbeit, und deswegen versuche ich auch, sie möglichst gut zu repräsentieren. Man kann so viel mehr erreichen, wenn man mit anderen gut zusammenarbeiten kann. Neugierde und Kollegialität kann man kultivieren, und ich bin mir sicher, dass man damit erfolgreich sein wird.

STANDARD: Zuletzt interessiert uns noch, ob Sie den Film "Oppenheimer" gesehen haben.

McDonald: Nein, aber ich habe es vor.

STANDARD: Das dachten wir uns. Sie waren selbst auch in Los Alamos tätig.

McDonald: Genau, aber nur für kurze Zeit, ich habe dort ein sechsmonatiges Sabbatical verbracht. Der andere Grund ist, dass ich ein paar Kollegen kenne, die am Bau der Atombombe beteiligt waren. Auch bin ich interessiert, welche politischen Probleme Robert Oppenheimer hatte.

STANDARD: Was interessiert Sie daran?

McDonald: Wir haben vorhin kurz besprochen, wie stark sich die Wissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat. Ich bin in den 1950ern in die Schule gegangen, und es ist erstaunlich, welche großen Fortschritte wir bei den Menschenrechten erzielt haben. Die Probleme, mit denen Oppenheimer konfrontiert war, waren im Grunde Probleme der Intoleranz. Und dabei hat die Welt große Fortschritte geschafft. Es liegt immer noch ein sehr langer Weg vor uns, aber wir sollten anerkennen, dass uns dabei schon viele Fortschritte gelungen sind. (Tanja Traxler, Sebastian Lang, 10.9.2023)