Den Blick in die Zukunft gerichtet: Johann Wolfgang von Goethe in der römischen Campagna.
Klassik Stiftung Weimar Fotothek

Wie viele Unentwegte haben sich nicht schon über diese Lebensgeschichte hergemacht: Goethe! Von Georg Simmel über Friedrich Gundolf und Richard Friedenthal bis zu Rüdiger Safranski reicht das Defilee der Biografen, um nur einige zu nennen. Und nun der Engländer Jeremy Adler. Ein umfassend gebildeter Kenner, emeritierter Germanist am King’s College London. Doch bald wird deutlich: Bei ihm erhalten wir keine Neuauflage von Goethes Lebensgeschichte.

Kein Verweilen in den Stationen Frankfurt, Leipzig, Straßburg oder Wetzlar. Auch Weimar, Rom oder Karlsbad spielen nur als Hintergrundkulisse mit. Im besten Sinn kann man Adlers Darstellung eine "intellektuelle Biografie" nennen, in der Porträt und philologische Analyse untrennbar Goethes komplexe künstlerische Entwicklung widerspiegeln.

Erfindung der Moderne

Das macht die Lektüre interessant. Denn Jeremy Adler verfolgt eine Vielzahl von Themensträngen, die in der Universalgestalt des "Renaissancemenschen" Goethe zusammenlaufen: Dichtung, Gesellschaft, Politik, organologische Naturforschung. Paul Valéry nannte Goethe voll Bewunderung "Genie der Verwandlung". Adler zeigt ausführlich, wie sehr sich sein Werk als eine einzige Abfolge von Metamorphosen präsentiert. Dabei ignoriert er freilich die Lebenskrisen und nahezu unüberwindbaren Spannungen, die den Ausnahmemenschen Goethe heimgesucht haben.

Indes: Bei Jeremy Adler haben wir es mit einem Goethe-Enthusiasten zu tun. Überschwang leitet seine Diktion. Zuweilen kann es einem den Nerv rauben, wie sehr dieser Hagiograf kaum einen Halt macht in seiner Verklärung Goethes zur heroischen Figur, die als "Erfinder der Moderne" gleichsam auf allen Wissensgebieten als Bahnbrecher aufgetreten sei.

"Veloziferischer" Denker

Dabei war dem Weimarer Geheimrat die Beschleunigung des modernen Lebens ein Gräuel. Er erfand dafür den Begriff des "Veloziferischen": eine Wortschöpfung aus "schnell" und "luziferischem" Teufelswerk.

Aber Adlers panegyrischer Tonfall raubt einem nicht die Leselust an manch scharfsinniger Untersuchung von Goethes Auctoritas. Ein Hauptaugenmerk des Gelehrten gilt dem politischen Denker Goethe. Als Minister und Mitglied im Regierungsgremium des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach hatte er direkten Einblick in die politischen Entwicklungen der Zeit.

Buchcover
Jeremy Adler, "Goethe. Die Erfindung der Moderne. Eine Biographie". Aus dem Englischen von Michael Bischoff. € 35,– / 656 Seiten. C. H. Beck, 2022:
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Quälende Maschinen

Die Überschaubarkeit des kleinen Landes förderte nicht nur die Identität von Staatsgebiet und Bürgerschaft, sondern auch eine realitätsnahe Suche nach der geeignetsten Gesellschaftsform, die Freiheit und wirtschaftliche Prosperität zusammenführen sollte. Für Adler war Goethe, unter Einfluss der Engländer John Locke und John Stuart Mill sowie seines Schweizer Gesprächspartners Benjamin Constant, ein Mitbegründer des "kosmopolitischen Liberalismus".

Als Beleg dient ihm unter anderem eine Briefstelle, in der Goethe über Constants Schweizer Mitstreiter Pierre Dumont schreibt, er sei "ein gemäßigter Liberaler, wie es alle vernünftigen Leute sind und sein sollen, und wie ich selber es bin und in welchem Sinne zu wirken ich während eines langen Lebens mich bemüht habe".

Adler führt vor, wie zukunftsweisend sich Goethes politische Ansichten zu den Entwicklungen der Moderne ausnehmen, vor allem auch da, wo er die Menschheit durch ungezügeltes Wachstum bedroht sieht. In Wilhelm Meisters Wanderjahre heißt es: "Was mich aber drückt, ist doch eine Handelssorge, leider nicht für den Augenblick, nein! für alle Zukunft. Das überhand nehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich, es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es hat seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen ..."

Antisemitismus-Check

Ein Kapitel behandelt den Antisemitismus. Da reiht sich der Olympier unrühmlich in die Galerie damaliger Judenverunglimpfer wie Voltaire, Kant, Herder und Fichte ein. Gleichzeitig blieb Spinozas Pantheismus sein stärkster Einfluss, und er genoss – ein schlecht vertretbarer Widerspruch – die Wertschätzung, die ihm in Berliner Salons von jüdischen Verehrerinnen wie Rahel Varnhagen, Henriette Herz oder Dorothea Veit, der Tochter Moses Mendelssohns, entgegengebracht wurde. Letztlich fand der Weimarer posthum durch mehr als ein Jahrhundert im gebildeten jüdischen Bürgertum eine maßgebliche Anhängerschaft.

Nach Abschluss beider Teile des Faust überantwortete Goethe 1831 sein "Hauptgeschäft" dem Leser: "Er wird sogar mehr finden, als ich geben konnte." So ergeht es einem mit Jeremy Adlers passioniertem und luzidem Goethe-Buch: Anregungen – auch zur Kontroverse – im Überfluss, die der Vielfalt von Goethes starkem Einfluss auf die Entwicklung des europäischen Denkens gerecht zu werden suchen. Denn: "Das Echte bleibt der Nachwelt unverloren." (Oliver vom Hove, 8.9.2023)