Der Wundersucher Amir Gudarzi.
Jürgen Pletterbauer

Amir Gudarzi ist ein Wundersucher, und zwar nicht nur im aktuellen Debütroman Das Ende ist nah, sondern auch in seinen vielgelobten Theatertexten. So beginnt das mit dem Kleist-Preis (2021) prämierte Stück Wonderwomb mit dem Versuch der Übertragung eines (wie auch immer fiktiven) "Buchs der Wunder", gefolgt von der trotzigen Festlegung, dass es nun genug sei mit Imitation und Vermittlung: "Ich schreibe mein eigenes Buch der Wunder, ohne weiter übersetzen zu müssen", heißt es dort am Ende des Prologs von einem Autor, der selbst gezwungen war, 2009 aus dem persischen Sprachraum in den deutschen überzusetzen und der nun schon seit etlichen Jahren ausschließlich auf Deutsch schreibt.

Das Ende ist nah ist dieses eigene Buch der Wunder. Es erzählt die Geschichte des autobiografisch konzipierten Protagonisten A., der im Arbeiter-, teilweise auch Gangstermilieu Teherans seine Kindheit und Jugend verbringt und sich bald – schon lange vor seiner erzwungenen Emigration nach Europa – von dieser Welt entfremdet, als er eine andere, fantastischere kennenlernt: die der Literatur und des Theaters, "wo das Aussprechen der Wörter und Sätze Wunder bewirkte und alles geschehen ließ" und wo man daran glaubt, "dass die Schrift und damit das Schreiben eine magische Kraft haben".

Ohn- und Übermacht

Im Roman, der mit Zeit- und Ortssprüngen arbeitet, erfährt man vom gescheiterten Aufstand gegen das iranische Regime 2009, von einer überstürzten Flucht und einem verstörenden Ankommen in Europa, von radikaler Isoliertheit im Asylland Österreich und von der absoluten Fremdheit des Intellektuellen im Exil. Nur ein einziges Buch aus seiner 8000 Bände umfassenden Bibliothek kann A. nach Europa retten: Nietzsches Also sprach Zarathustra. Wie dieser Verkünder des "Übermenschen" ist auch A. eine Art Seiltänzer, wird selbst zu einem Übergang, der zwischen den Welten schwebt – zwischen Mythos und Wahrheit, Wahn und Wirklichkeit, gestimmt in den schnell abwechselnden Modi von Ohn- und Übermacht.

Gudarzi zeichnet die iranische Gesellschaft, in der A. bis zu seinem 23. Lebensjahr lebt, liebt, schreibt und kämpft als gewalttätig, opportunistisch, bigott und nur auf Gesichtswahrung ("aberu") bedacht, als außerdem jede Sexualität unterdrückend, während Vergewaltigungen an der Tagesordnung sind und zur brutalen Unterwerfung dienen. Auch A. wird Opfer dieses Gewaltreigens, wird verhaftet, gefoltert und "gebrochen", wie es in einer an sich haltenden, um Kontrolle und Objektivität bemühten Aufzählung einmal wie beiläufig heißt. Inkriminierendes Filmmaterial, oppositionelle Texte und die Teilnahme an Demonstrationen zwingen A. letztlich zur Flucht und zum Abschiednehmen. Mit im Gepäck: das Trauma.

Der größere Teil der Romanhandlung spielt in Wien und Niederösterreich, wo A. an unterschiedlichen Orten Quartier nimmt. Der Erzählung gelingt es, das Scheinwerferlicht auf Orte zu richten, die oft nur im Halbdunkel liegen – wie das Dollfuß-Museum in Texingtal, an dem der nunmehrige Asylwerber A. immer wieder vorbeimuss. Dabei leuchtet Gudarzi auch die niederösterreichische Provinzseele aus. In diesen Passagen des gepflegten Heimathasses erinnert der Roman an Elfriede Jelinek und vor allem an Thomas Bernhard. Aber nicht nur Innenminister Karner (der ja Bürgermeister Texingtals war) wird bei so viel Nestbeschmutzung die Zornesröte ins Gesicht steigen, auch der linksliberale Diskurs bekommt sein Fett ab.

Amir Gudarzi, "Das Ende ist nah". €26,50 / 416 Seiten. dtv, München 2023.
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Freiheitskampf

Das Ende ist nah romantisiert Flucht und Exil nie und ist auch deshalb ein wichtiges Buch. Es behandelt Rassismus und Gewalt unter Asylwerbenden ebenso wie Islamismus, Sexismus und Prostitution, enttarnt den Antiimperialismus mancher Linker als mit der Ideologie des Mullah-Regimes verwandt und erzählt, wie ein kommunistischer Pizzabäcker seine Angestellten ausbeutet.

Am bedrückendsten ist aber die Romanze zwischen A. und Sarah, einer deutschen Geisteswissenschafterin, die in Wien ihre Dissertation zu Siegfried Kracauer verfasst. In dieser Affäre gibt es keine Gewinner. Der Roman zeigt gegenseitige Abhängigkeiten und geht dabei weit über gängige Thematisierungen von "white saviorism" hinaus. In den Episoden dieser Beziehungstragödie, in denen Mythos, Wirklichkeit und Psychopathologie immer mehr ineinanderblenden, entfaltet Gudarzis Text seine stärkste Kraft, vielleicht eine, "wo Wörter und Sätze" wirklich "Wunder" bewirken.

In Die Suche nach dem Wunder, einem vergessenen Buch von Antal Szerb aus den 1930er-Jahren, schreibt Szerb, dass es im Roman das Wunder geben müsse, "denn in diesem offenbart sich das Prinzip der Freiheit". Gudarzis Das Ende ist nah ist einem solchen Freiheitskampf verschrieben und überzeugt dabei auf allen Ebenen. (Thomas Wallerberger, 8.9.2023)