Acht Buchstaben haben gereicht, um in ihrer zusammengesetzten Form für gehörigen Wirbel zu sorgen. Nicht nur in der österreichischen Parteienlandschaft, sondern auch rund 1.100 Kilometer nordwestlich von Wien, in der EU-Schaltzentrale Brüssel. Entfleucht sind sie dem Mund Martin Selmayrs, einst Spitzenbeamter im Maschinenraum Europas und mittlerweile Repräsentant der EU-Kommission in Wien.

"Blutgeld" also, dieses Wort ist seit Mittwochabend in aller Munde, seit der 52-jährige Deutsche damit die fortlaufenden österreichischen Gasimporte aus Russland kritisierte. Geschehen im Almanac-Hotel am Wiener Parkring bei einer Diskussionsveranstaltung der Kunstmesse Viennacontemporary. Der Rahmen war überschaubar, vielleicht waren an die 50 Menschen anwesend.

Martin Selmayr saß in der EU-Kommission jahrelang an den Hebeln der Macht. Nun ist er in Wien stationiert
Martin Selmayr saß in der EU-Kommission jahrelang an den Hebeln der Macht. Nun ist er in Wien stationiert
Wolfgang Sos / picturedesk.com

Einen Tag später, um 11.37 Uhr, berichtete die Austria Presse Agentur in zwei knappen Absätzen darüber. "Oh mein Gott, 55 Prozent des österreichischen Gases kommen weiterhin aus Russland", wird Selmayr zitiert. Österreich finanziere derart Putins Krieg, und niemand sei auf der Wiener Ringstraße, um dagegen zu protestieren. "Das verwundert mich, denn Blutgeld wird jeden Tag mit der Gasrechnung nach Russland geschickt."

FPÖ fordert Abberufung

Was folgt, ist eine Empörungswelle, beginnend mit einer Aussendung von FPÖ-Generalsekretär Michael Schnedlitz, der die sofortige Abberufung des EU-Beamten fordert. Kurz darauf zieht das Außenamt nach und verkündet, dass Selmayr ins Ministerium zitiert werde, sobald der sich zum jetzigen Zeitpunkt im Ausland Befindliche wieder nach Wien zurückkehrt.

Die für die EU zuständige Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) kritisiert die Äußerung als "unseriös und kontraproduktiv" sowie "völlig einseitig". Und Donnerstagabend meldet sich schließlich auch die EU-Kommission zu Wort, also das Organ der Europäischen Union, das Selmayr vertritt.

"Die Kommission distanziert sich von den bedauerlichen und unangemessenen Aussagen des Leiters der Repräsentanz in Österreich", heißt es in einer Stellungnahme der stellvertretenden Chefsprecherin der EU-Behörde, Dana Spinant. Selmayr werde aufgefordert, "unverzüglich in Brüssel über den Vorfall Bericht zu erstatten", heißt es in der Stellungnahme weiter.

Selmayr, auf den wohl nun einige Reisekilometer warten, gilt als hochkompetenter Mann, der im persönlichen Umgang aber nicht der Einfachste sein soll, euphemistisch ausgedrückt. Gerade in seiner Zeit als Kabinettschef von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker von 2014 bis 2018 soll er sich in Brüssel unbeliebt gemacht haben – unter anderem, weil er selbst EU-Kommissaren über den Mund fuhr und vor Intrigen nicht zurückschreckte. "Mein Monster" nannte Juncker den arbeitswütigen Deutschen einmal, was auch dazu führte, dass ihn die sonst eher zurückhaltende Nachrichtenagentur AFP als "Junckers Monster" bezeichnete.

In der nun aktuell von ihm losgetretenen Debatte gibt es aber nicht nur Kritiker, sondern auch zahlreiche Fürsprecherinnen und Fürsprecher. Als Erste meldeten sich die Neos zu Wort. "Österreich sponsert täglich Putins Krieg mit seiner hohen Abhängigkeit von russischem Gas. Das ist ein Fakt, den man einfach nicht schönreden kann, sondern den man auch ganz klar benennen kann und kritisieren muss", schrieb Energiesprecherin Karin Doppelbauer.

Kritik am Außenamt

Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) gab Selmayr in der Sache recht und erklärte bei Puls 24, er habe das Wort 2014 auch schon verwendet. Am Freitag hielt es aus der SPÖ EU-Delegationsleiter Andreas Schieder für "völlig übertrieben", Selmayr dafür ins Außenministerium zu zitieren: "Die Formulierung war überspitzt, in der Sache hat Selmayr aber recht. Österreichs türkis-grüne Bundesregierung tut im EU-Vergleich viel zu wenig, um die Energieabhängigkeit und die wirtschaftliche Verflechtung mit Russland zu lösen." Ähnliches gab Othmar Karas (ÖVP) von sich, erster Vizepräsident des Europaparlaments: "Die Wortwahl ist unpassend, das Thema ist wichtig."

Und was sagt Selmayr selbst zu der Causa? Gegenüber der Presse erklärte er, wie es überhaupt zu diesem Sager kam. Demnach habe er am Ende der Diskussionsveranstaltung auf Wortspenden eines Mannes aus dem Publikum reagiert, der zu Protesten gegen die "kriegstreiberische" EU aufgerufen und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vorgeworfen hatte, "Blut" an ihren Händen zu haben. Das wollte Selmayr so nicht stehen lassen und sprach deshalb von "Blutgeld". (Kim Son Hoang, 8.9.2023)