Am vierten Tag nach dem schweren Erdbeben ist die Opferzahl auf fast 2.901 gestiegen. Wie das marokkanische Innenministerium am Dienstagnachmittag bestätigte, wurden bisher außerdem 5.530 bei dem Beben mit der Stärke 6,8 am späten Freitagabend verletzt. Hunderte Menschen werden noch immer vermisst. Hilfe erreicht die Opfer in entlegenen Bergdörfern jedoch nur langsam, Erdrutsche versperren den Weg durch das Atlasgebirge. Marokko hat bisher erst von vier Staaten Unterstützungsangebote angenommen.

Diese extrem zurückhaltende Vorgehensweise wurde damit argumentiert, dass sich Mängel in der Koordinierung nachteilig auswirken würden. Daher habe man zunächst "auf die Unterstützungsangebote der befreundeten Länder Spanien, Katar, Großbritannien und Vereinigte Arabische Emirate reagiert", erklärte das Innenministerium. Großbritannien ist mit sechzig Rettungsexperten sowie vier Suchhunden in Marokko, teilte der britische Botschafter Simon Martin mit. Auch eine Spezialeinheit des spanischen Militärs mit Suchhunden beteiligt sich. Auf die Hilfsangebote anderer Staaten, darunter Österreich, Deutschland und die USA, wurde zunächst aber nicht zurückgegriffen.

Die marokkanische Regierung steht angesichts dieser verzweifelten Situation in den Katastrophengebieten unter wachsendem Druck, mehr internationale Hilfe anzunehmen. Beamte des Landes rechtfertigten ihre Entscheidung damit, dass es ihrer Einschätzung nach zu chaotisch wäre, wenn plötzlich Teams aus der ganzen Welt in Marokko eintreffen würden.

Video: Marokko nimmt Erdbeben-Hilfe von nur vier Ländern an
AFP

Frankreich bot Hilfe an

Auch Frankreich wollte als "Bruderland" den Opfern des Bebens zu Hilfe eilen – schließlich teilt man mit dem ehemaligen Protektorat Geschichte, Sprache und zum Teil auch die Kultur. Die Regierung in Paris hat sofort fünf Millionen Euro bereit- und Rettungsteams zusammengestellt. Losgeflogen sind sie bis heute nicht, denn Hilfe aus Paris ist in Rabat nicht erwünscht. Die Erklärung dafür ist politisch. Der frankomarokkanische Journalist Mustapha Tossa erklärte, schuld sei "in erster Linie" die Weigerung Frankreichs, die Westsahara als marokkanisches Staatsgebiet zu akzeptieren. Mehrere Länder wie Spanien neigen dem Autonomieplan zu, den Marokko für die Region vorgelegt hat. Sie machen sich damit langsam die Position Marokkos zu eigen und gehen vom Uno-Plan eines Referendums ab.

Paris liegt eher auf der Linie Algeriens, das die Ansprüche Marokkos auf die Westsahara ablehnt. Seit Beginn des Ukrainekriegs setzt Präsident Emmanuel Macron noch stärker als bisher auf die algerische Karte, um auch Öl- und Gaslieferungen zu gewährleisten. Macron hatte die Marokkaner schon 2022 verärgert, als er die Zahl der Visa halbierte. Französische Touristen können dagegen nach wie vor ohne Visum nach Marokko einreisen; viele haben gerade in Marrakesch einen Riad (Stadtvilla) als Ferienresidenz.

Ein Rettungsteam in Talat N'Yaaqoub südlich von Marrakesch.
EPA/MOHAMED MESSARA

Der marokkanische König Mohammed VI. hat deshalb seinen Botschafter in Paris im Jänner zurückberufen. Zudem ärgerte er sich dem Vernehmen nach über ein Video, in dem er womöglich betrunken im nächtlichen Paris zu sehen ist – obwohl er als guter Muslim keinen Alkohol trinken sollte. Die marokkanischen Zeitungen berichteten keine Zeile darüber, doch via soziale Medien erfuhren es die Untertanen des Königs trotzdem.

König weilte in Frankreich

Von einer Pariser Zeitung erfuhren sie zudem am Samstag, dass sich ihr König in Frankreich wegen einer Immunkrankheit hatte pflegen lassen – um nach dem Beben in aller Hast nach Rabat zurückzujetten und dort eine vom Fernsehen übertragene Krisensitzung zu inszenieren. Nun wissen die Marokkaner, warum sich ihr König fast einen Tag lang nicht über das Beben geäußert hatte.

All dies soll Mohammed so erbost haben, dass er die Franzosen nun mit seiner Ausladung bewusst zu demütigen suchte. Die französische Regierung versucht ihr Unverständnis über die Haltung des Königs zu verhehlen. Innenminister Gérald Darmanin bestritt, dass in dieser Affäre "politische Gründe" mitspielten. "Marokko und Frankreich sind zwei Bruderländer", sagte er im Fernsehen. Außenministerin Catherine Colonna meinte ihrerseits, Marokko sei ein souveränes Land. Frankreich stehe weiter zur Verfügung, um Hilfe zu leisten.

Chancen schwinden

Die Hoffnungen auf Überlebende schwinden allerdings mit jeder Stunde. Nach drei Tagen ohne Wasser sinken die Chancen für unter den Trümmern Eingeschlossene rapide. Dennoch wurden in der Vergangenheit auch immer wieder Menschen noch zu einem deutlich späteren Zeitpunkt lebend geborgen. Gleichzeitig müssen die Überlebenden, die ihr Zuhause verloren haben, mit Nahrung, aber auch medizinisch und psychologisch versorgt werden. Zahllose Menschen übernachten aus Angst vor Nachbeben weiterhin unter freiem Himmel. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO sind mehr als 300.000 Menschen in Marrakesch und der umliegenden Region betroffen. (Stefan Brändle, Michael Vosatka, 11.9.2023)