Christian Thielemann Musikverein Wien 
Christian Thielemann am ersten Gastspielabend der Sächsischen Staatskapelle.
Markenfotografie

Die Alpen werden nicht nur touristisch genutzt, sie gerieren auch musikalische Wertschöpfung. Hat Gustav Mahler in seiner dritten Symphonie nach Bruno Walters Angabe das Höllengebirge neben dem Attersee "wegkomponiert", so verklanglichte der Wahl-Garmischer Richard Strauss in seiner Alpensymphonie eine Gipfeltour samt Blitz und Donner und antichristlicher Marschrichtung. Wer im Musikverein der Interpretation dieser Tondichtung am ersten Gastspielabend der Sächsischen Staatskapelle lauschte, war versucht zu sagen: Der Radfahrer Christian Thielemann scheint nicht viel in den Bergen unterwegs zu sein.

Auf einen Sonnenaufgang mit dem Suchscheinwerfer folgte stocksteifer Überschwang beim Anstieg. Der Deutsche schraubte akribisch an Petitessen, betätigte sich lieber als Feinmechaniker denn Atmosphäriker. Winzige Unsauberkeiten der Geigen, das Holz zeigte sich am Gipfel verstimmt.In der letzten gemeinsamen Spielzeit musizierten die Sachsen streng nach Thielemanns Vorschrift, Überschwang ist anderswo. Ob der abflachende Karrierepfad des 64-Jährigen als Nachfolger Daniel Barenboims an der Berliner Staatsoper in neue Höhen führen wird? Kultursenator Joe Chialo und die designierte Lindenoper-Intendantin Elisabeth Sobotka werden dies bald entscheiden.

Schwanendreher

Für Weltklasse sorgte in der ersten Programmhälfte Antoine Tamestit. Die Bräsigkeit, die der Spezies der Bratschisten klischeehaft angedichtet wird, ist dem Franzosen unbekannt: Bei seiner Interpretation von Hindemiths Der Schwanendreher, dem "Konzert nach alten Volksliedern", hatte vor allem der hurtig-präzise Finalsatz kein Gramm Fett am Leib.

Zum Herzstück wurde der Mittelsatz, den Tamestit mit wiegender Wärme und sanftem Siciliano-Rhythmus begann. Wer Hindemith wie Thielemann als einen gemäßigt modernen Künstler bezeichnet, wurde bei der Zugabe eines Besseren belehrt: Beim vierten Satz der Solosonate op. 25/1 wies der deutsche Komponist unüberhörbar Jimi Hendrix einen Weg – wie Tamestit erklärte. Jubel zum Saisonstart. (Stefan Ender, 12.9.2023)