Er hätte Miron heißen sollen, benannt nach dem russischen Wort Mir, was so viel wie Frieden oder Welt bedeutet. Aber aus dem Frieden wurde der Tod. Iryna Kalinina starb nach einem Luftangriff der russischen Armee auf die Geburtsklinik in der ukrainischen Stadt Mariupol. Ihr Sohn Miron hätte hier auf die Welt kommen sollen. Doch die Russen hatten etwas dagegen. Ein Luftangriff löschte gleich beide Leben aus. Wie so viele in der Kriegshölle von Mariupol.

Der ukrainische Fotograf Evgeniy Maloletka hat den Kampf um Mariupol miterlebt – er dokumentierte ihn für die US-Nachrichtenagentur Associated Press (AP) und damit für die Welt. Ein Foto, das auf zahlreichen Titelseiten landete, zeigt ebenjene Iryna Kalinina, die am 9. März 2022 hochschwanger und schwer verletzt auf einer Bahre aus der Geburts- und Kinderklinik getragen wurde.

Der Horror des Krieges in einem Bild: Iryna Kalinina starb nach dem Angriff auf eine Geburtsklinik in Mariupol.
Der Horror des Krieges in einem Bild: Iryna Kalinina starb nach dem Angriff auf eine Geburtsklinik in Mariupol.
AP/Evgeniy Maloletka

Das Bild ist das World Press Photo of the Year. Und es ist doch viel mehr als das Pressefoto des Jahres – nämlich eindringliches Symbol für den Schrecken des Krieges und Beweis eines Kriegsverbrechens. Das Foto ist ab diesem Freitag in der Wiener Galerie Westlicht als Teil der Ausstellung "World Press Photo 2023" zu sehen.

Tausende Tote

Dass sein Foto mit einem der weltweit wichtigsten Preise für Fotojournalismus ausgezeichnet wurde, ist für Evgeniy Maloletka Ehre und Auftrag zugleich. Kalinina stehe stellvertretend für tausende Tote in Mariupol. "Sie haben dort willkürlich Leute umgebracht. Und es war ihnen egal", sagt der AP-Fotograf und Filmemacher im Gespräch mit dem STANDARD. "Es ist wichtig, dass diese Tragödie von Mariupol als eines der schrecklichsten Kriegsverbrechen wahrgenommen wird." Laut ukrainischen Angaben soll die dreimonatige Belagerung der Stadt zwischen 24. Februar und 20. Mai 2022 das Leben von 25.000 Zivilistinnen und Zivilisten gefordert haben.

Maloletka ist eine Stunde vor der russischen Invasion in Mariupol angekommen. Er blieb 20 Tage und zählte zu den wenigen verbliebenen Journalisten, die damals aus der Stadt berichteten. "Luftangriffe, Bomben und Panzer, die Wohnhäuser ins Visier nahmen. Es war für niemanden sicher", erzählt Maloletka. Sichere Evakuierungen gab es nicht. Auch nicht für die Zivilbevölkerung. Maloletkas Kollege Mantas Kvedaravičius hatte weniger Glück. Der litauische Filmemacher wurde von russischen Soldaten getötet, als er die umkämpfte Stadt verlassen wollte.

"Wie eine Ruine"

Der 9. März 2022 gehörte zu den schlimmsten Tagen in Mariupol. Kampfflieger, Explosionen in unmittelbarer Nähe, überall Rauch und Glassplitter sowie eingestürzte Wände: So beschreibt Maloletka die Augenblicke vor und nach der Bombardierung der Geburts- und Kinderklinik. "Sie sah aus wie eine Ruine." Iryna Kalinina wurde aus der Klinik getragen. "Sie hatte auf der linken Seite eine ungefähr 15 Zentimeter große Wunde vom Bauch bis zum Bein", sagt er über jenen Moment, den er nie mehr vergessen wird, "das sieht man auf dem Foto gar nicht".

AP-Fotograf Evgeniy Maloletka.
Chris Pizzello/Invision/AP

Kalinina wurde in ein anderes Spital gebracht, wo zuerst ihr Baby tot geboren wurde. Eine halbe Stunde später verloren die Ärzte auch den Kampf um ihr Leben. Ihr Mann Iwan hatte seine Frau in Krankenhäusern gesucht, fand sie aber schließlich in der Leichenhalle. Zusammen mit dem Baby lag sie in einem Leichensack. Iryna und er hätten lange versucht, ein Kind zu bekommen, sollte er später erzählen.

Russisches Kriegsverbrechen

Russland versuchte den Angriff auf die Geburtsklinik mit dem Hinweis auf dort verschanzte Soldaten zu rechtfertigen und sprach von einer Inszenierung. "Eine glatte Lüge", sagt Maloletka. Es seien nur Securitys vor Ort gewesen. Die Fotos sprechen eine deutliche Sprache. Ein OSZE-Bericht kam dann auch zu dem Schluss, dass der Luftangriff ein russisches Kriegsverbrechen war.

Wie er so viele Leid aushalten könne, darauf hat Maloletka keine schnelle Antwort, nur: "Weitermachen, auch wenn es manchmal sehr hart ist." Aufzuhören sei keine Option. "Du nimmst das Risiko auf dich und gehst. Das ist mein Land, das ist mein Job."

"Zeigen, was im Krieg passiert"

Sein Job ist es, so viel wie möglich zu dokumentieren. "Wir müssen zeigen, was im Krieg passiert." Dazu gehören auch jene Fotos, die er erst vor wenigen Tagen in der ostukrainischen Stadt Kostjantyniwka gemacht hat, als ein Marktplatz in einem belebten Viertel zum Ziel eines russischen Angriffs wurde. Überall Leichen, verbrannte Körper, verstümmelte Gliedmaßen. "Das ist der Krieg, wie er ist. Das sind Kriegsverbrechen", sagt Maloletka. Mindestens 16 Menschen starben. Jede Ukrainerin und jeder Ukrainer sehne sich nach einem "normalen Leben – wie es die Leute in Wien oder Berlin führen".

Ukrainische Soldaten kümmern sich um Verletzte nach dem Angriff eines Marktplatzes in der Stadt Kostjantyniwka, festgehalten von Evgeniy Maloletka.
Ukrainische Soldaten kümmern sich um Verletzte nach dem Angriff eines Marktplatzes in der Stadt Kostjantyniwka, festgehalten von Evgeniy Maloletka.
AP/Evgeniy Maloletka

Ob Medien solche Kriegsfotos veröffentlichen sollten, liege in ihrem Ermessen. Er sei Fotograf und kein Chefredakteur, er sei aber tendenziell dafür, denn: "Sie zeigen den Horror und erinnern die Leute daran, dass der Krieg immer noch tobt." Und dass der Wunsch nach Normalität noch lange nicht erfüllt ist. (Oliver Mark, 13.9.2023)