Tripolis – Niemand aus seiner Großfamilie sei lebend gefunden worden, sagt Mustafa Salem. "Die Menschen haben geschlafen und wurden überrascht. Wir haben 30 Menschen verloren, 30 Menschen aus einer Familie", erklärt er der Nachrichtenagentur Reuters. Salem und seine Verwandten leben oder lebten in Darna im Osten Libyens – dort, wo das Land am schwersten von den Überschwemmungen getroffen wurde, die Sturm Daniel verursacht hat.

Video: Die libysche Stadt Darna zählt ihre Toten
AFP

Dieses traurige Schicksal ist exemplarisch für das Leid, das das ohnehin schon bürgerkriegsgeplagte Land mit zwei konkurrierenden Regierungen nun auf sich nehmen muss. Und jeden Tag steigen die Zahlen weiter. Nach Angaben der Verwaltung im Osten des Landes kamen mehr als 5.000 Menschen ums Leben. Allein in der besonders betroffenen Hafenstadt Darna seien bisher 3.840 Todesopfer registriert worden, sagte der Sprecher des Innenministeriums in dem Gebiet, Tarek al-Charras, am Mittwochabend. Darnas Bürgermeister Abdulmenam Al-Ghaithi geht davon aus, dass sich die Zahl der Toten in seiner Stadt auf 18.000 bis 20.000 erhöhen könnte.

Leichen werden an den Strand gespült

Die Zahlen könnten sich noch verdoppeln, sagte Luftfahrtminister Hichem Abu Chkiuat, ständig würde das Meer dort Leichen an den Strand spülen. Hinzu kommen laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) mehr als 30.000 Menschen, die ihr Zuhause verloren haben. Angesichts dieses Ausmaßes bat Hichem Abu Chkiuat um internationale Hilfe: "Das Land hat keine Erfahrung damit, mit solchen Katastrophen umzugehen."

Die Uno ist bereits im Hilfsmodus. Nothilfeteams seien mobilisiert worden, Hilfskonvois unterwegs, hieß es. Zahlreiche Länder boten Unterstützung an, in Österreich gab das Rote Kreuz 150.000 Euro als Soforthilfe für Libyen und Marokko frei, wo ein Erdbeben für verheerende Schäden gesorgt hatte.

Helfer nach Überschwemmungen in Libyen
Helfer des libyschen Roten Halbmonds bei einer Rettungsaktion im Überschwemmungsgebiet im Osten des Landes.
LIBYAN RED CRESCENT via REUTERS

Doch die tiefen politischen Brüche im Land erschweren die Rettungsmaßnahmen. Seit dem Sturz von Muammar al-Gaddafi 2011 konnte Libyen keine stabile Zentralregierung aufbauen. Die international anerkannte Regierung hat ihren Sitz im westlibyschen Tripolis, während im Osten ein Parallelkabinett tätig ist, das allerdings nicht wirklich Einfluss hat. Dort habe vielmehr General Khalifa Haftar das Sagen, sagte Libyen-Experte Wolfram Lacher von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) dem ZDF. Mit ihm werde sich die internationale Hilfe koordinieren müssen.

Gaddafis Mitverantwortung

Apropos Gaddafi: Lacher zufolge ist die Katastrophe auch mit der politischen Situation verknüpft: "Der Grund für das Ausmaß der Katastrophe ist der Bruch dieser zwei Dämme oberhalb von Darna." Jahrelang sei dort nicht ausreichend in die Infrastruktur investiert worden. "Gaddafi hat damals die Stadt dafür bestraft, dass in ihr Aufständische die Waffen ergriffen hatten", so Lacher. Zwar sei zuletzt immer etwas Geld geflossen, "aber das ging unter anderem in die Taschen von Milizenführern und Kriegsprofiteuren".

Und auch jetzt befürchtet Experte Lacher, dass die politischen Akteure in Libyen aus der Katastrophe eher Profit schlagen wollen, als sie zu bewältigen. (ksh, 13.9.2023)