Chassidismus Unorthodox Judentum Gedenkkultur
Deborah Feldmann, US-amerikanische Autorin mit Wohnsitz in der deutschen Bundeshauptstadt: Sie hat u.a. in Belgien und Israel nach authentischem jüdischen Leben geforscht.
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Für eine kurze Zeitspanne fühlte sich Deborah Feldman frei: vom Druck, sich für ihre Identität rechtfertigen zu müssen. Die jüdische US-Autorin, Jahrgang 1986, hatte in ihrer Autobiografie Unorthodox eindrucksvoll die Geschichte ihrer Emanzipation beschrieben, die Lossagung von ihrer strengen chassidischen Gemeinde in New York.

Die Kraft ihres Judentums bezog Feldman aus der Allgegenwart der Shoah. Feldmans Großeltern, aus Ungarn gebürtig, waren der Mordmaschinerie der Nazis entronnen. Die Loslösung von uralten Satzungen, von jüdisch-orthodoxer Sitte und Überlieferung, erforderte für eine junge Frau, gefangen in ihrer "Bubble", Mut, Ausdauer und jede Menge Courage.

Die Sprengkraft einer solchen Parabel über Trotz und Selbstbehauptung wurde durch die Netflix-Verfilmung von 2020 bestätigt. Die Miniserie, von Maria Schrader vital inszeniert, illustrierte die Flucht einer jungen Chassidin aus einer arrangierten Ehe – und stieß gerade beim arabischen Publikum auf reges Interesse. Ihren Wunsch, "Mensch unter Menschen zu sein", verbindet Deborah Feldman mit einer Reihe von Ansprüchen: ihr Jüdischsein zu leben, emanzipiert zu bleiben, den Zionismus abzulehnen und säkular zu sein.

Doch Erfolgsnachricht gibt es keine. Feldmans neues Buch trägt den provokanten Titel Judenfetisch. Es ist ein nervös flackernder Krisenbericht geworden, von Bitterkeit erfüllt, mit Galle nachgeschwärzt.

Gebrochene Biografien

Immerzu meint man Feldman vor sich zu sehen, wie sie ob der Zumutungen, die man an ihresgleichen richtet, energisch den Kopf schüttelt. Neue jüdische Freunde, die sie in Berlin rasch gewinnt, entpuppen sich als Menschen mit eigentümlich gebrochenen oder "uneigentlichen" Biografien.

Die überraschende Blüte jüdischen Gemeindelebens basiert häufig auf dem Fleiß neuer Mitglieder. Oft sind es Angehörige des Abraham-Geiger-Kollegs in Potsdam: Sie zeichnen für das Wiedererstarken des Judentums verantwortlich. Feldman will bei den Umtriebigen eine Reihe gravierender Mängel erkannt haben. Sie erzählt von Bekannten, die entgegen eigener Behauptung weder beschnitten sind noch Hebräisch gelernt haben – und trotzdem die Berufung fühlen, im Namen der Überlieferung zu sprechen. Das "Fake"-Judentum, das Feldman entdeckt zu haben meint, gehört zu jenen Aspekten deutscher Gedenk- und Erinnerungskultur, die die Kritikerin außerordentlich scharf zurückweist.

Solange der deutsche Staat massiv in jüdisches Gemeindeleben investiere, so ihr Vorwurf, so lange gebe es lokale "Nachfrage" nach religiöser jüdischer Identität. Doch der Anspruch auf Zugehörigkeit zum Judentum erscheint ungesicherter denn je. Erdrückend spürbar bleibt, bis in alle Winkel der Diaspora hinein, die Allgegenwart der Fremdbestimmung. Wer von heutigen Erscheinungsformen des Judentums spricht, stößt auf eine Vielzahl von "Spielarten".

Joch der Vorschrift

Feldman fühlt sich, nur zum Beispiel, durch jene Orthodoxen im Heiligen Land abgestoßen, die Israels Gesellschaft unter das Joch ihrer Vorschriften zwingen, Tendenz steigend. Die 14-jährige Mädchen aufgrund von Kleidervorschriften mit Steinen bewerfen und eine demografische "Übernahme" des Landes vorbereiten: natürlich zulasten jener jungen Eliten, die Tel Aviv oder Haifa prägen.

Der "Judenfetisch" geht reihum in Deborah Feldmans unbedingt bedenkenswertem, dennoch chaotischem Buch. Indem sie Jerusalem bereist, mit ihren Leserinnen und Lesern am synagogalen Leben teilnimmt, wirft sie scharfe, hastige Blicke auf eine Vielzahl jüdischer Blessuren. Öfter meint man, gerade sie, die unvoreingenommene Liberale, fühle sich gehalten, das Judentum "essenzialisieren" zu müssen.

Deutschen Kollegen wie Michel Friedman und Maxim Biller hat sie, ohne Nennung der Namen, wenig schmeichelhafte Porträts gewidmet. Opernregisseur Barrie Kosky unterstellt sie aufgrund eines kontextabhängigen Inszenierungsdetails sogar "Bezugslosigkeit" zum eigenen Judentum. Feldman sucht nach Auswegen: um Unberufenen das Rederecht über ihre eigene Befangenheit zu entziehen. Wer dabei, womöglich in bester Absicht, Begriffe wie "Bühnenjude" und "Papierjude" ins Treffen führt, läuft Gefahr, die Abzweigung zum "Weg ins Freie" (Schnitzler) zu verpassen. (Ronald Pohl 15.9.2023)