Weit oberhalb der beschaulichen Gemeinde Vent im tiefsten Tiroler Ötztal bis hinauf auf den Gipfel der 3738 Meter hohen Weißkugel erstreckt sich eine gewaltige Eismasse: der Hintereisferner, einer der größten Gletscher Tirols. Er gehört zu den bestuntersuchten Eismassen der Welt, ist ein sogenannter Referenzgletscher. Im heurigen Sommer hat er sich in ein gigantisches Labor verwandelt. Internationale Wissenschafterinnen und Wissenschafter haben sich dort, in luftigen Höhen unweit der Grenze zu Italien, eingefunden, um mehrere Wochen lang Daten zu sammeln und neue Erkenntnisse zu gewinnen.
Lindsey Nicholson hat ein wettergegerbtes Gesicht und ein breites Lächeln. Vor wenigen Tagen erst sei sie wieder ins Tal abgestiegen, erklärt sie dem STANDARD im Videogespräch. Es dauere immer einige Zeit, wieder im Alltag anzukommen. Dort oben, auf über 3000 Meter Seehöhe, habe man kaum Funkempfang, es sei eine eigene Welt. Nicholson hat die heurige Forschungsmission am Hintereisferner initiiert und koordiniert.
Die junge Engländerin hat in ihrem rund 20-jährigen Forscherinnendasein schon viele Gletscher gesehen. Sie hat im Himalaya geforscht, war in den chilenischen und peruanischen Anden, in Norwegen, Kenia und in Alaska unterwegs. Seit 2017 arbeitet sie am Institut für Atmosphären- und Kryosphärenwissenschaften der Universität Innsbruck, wo sie die Arbeitsgruppe Eis und Klima leitet.
Beforscht, vermessen, untersucht
An Tirol schätzt sie nicht nur die unmittelbare Nähe zu ihren Forschungsobjekten – in dem Bundesland gibt es rund 620 Gletscher, die laut Gletscherinventar von 1998 eine Fläche von über 300 Quadratkilometern bedecken –, sondern auch die Tatsache, dass diese "relevant für die Menschen und die Umgebung" sind, in der sie lebe und arbeite. Schon seit über zehn Jahren kehre sie im Zuge ihrer Forschungen immer wieder an den Hintereisferner zurück, erzählt sie dem STANDARD.
Der Hintereisferner erstreckt sich über eine Länge von rund fünf Kilometern. An der mächtigsten Stelle ist er um die hundert Meter dick. Von der Wissenschaft wird er seit mehr als 100 Jahren beforscht, seit Jahrzehnten nahtlos beobachtet und akribisch vermessen. Laserscanner, Webcams und Wetterstationen sammeln täglich Daten. Seit 1952 gibt es kontinuierliche Aufzeichnungen über die Entwicklung seiner Massenbilanz, es ist eine der längsten durchgehenden Messreihen an einem Gletscher weltweit.
Schnell schwindendes Eis
Seit 2016 verwendet das Team der Innsbrucker Arbeitsgruppe Eis und Klima für die Vermessungen ein weltweit einzigartiges System: Sogenannte terrestrische Laserscanner tasten die eisige Oberfläche ab, und das täglich. So lassen sich präzise Aussagen zur Massenbilanz und zum fortschreitenden Gletscherschwund treffen. Und diese Zahlen lassen keinen Zweifel: Der Koloss zerrinnt, das Eis schmilz weitaus schneller, als es nachwächst. In den zehn Jahren habe sie "massive Veränderungen" an dem Gletscher beobachtet, bestätigt Nicholson.
Seit rund 30 Jahren ist die Gletscherschmelze in den Alpen laut Expertinnen und Experten zu 100 Prozent menschengemacht. Der Hintereisferner hat seit 1850 zwei Drittel seines Volumens eingebüßt. Laut Berechnungen wird er bereits in den nächsten zehn bis 15 Jahren die Hälfte seines Eises verloren haben. Die Gletscher schwinden – und sie schwinden immer schneller.
20 Monate Trinkwasser für Innsbruck
Das zeigt auch der Gletscherbericht des Österreichischen Alpenvereins (ÖAV) von 2021/22. Demnach war der Gletscherschwund im letzten Jahr der größte seit Beginn der Messungen im Jahr 1891. Im Jahr 2022 wurde auch die negativste Massenbilanz seit Beginn der Aufzeichnungen gemessen. Die Kombination aus einem schneearmen Winter und einem heißen Sommer ließen am Hintereisferner 20 Millionen Kubikmeter Eis schmelzen, ein Wasservolumen mit dem man die Stadt Innsbruck 20 Monate mit Trinkwasser versorgen könnte. Zudem rutscht die Massenbilanz immer früher im Jahr ins Minus. Der "Glacier Loss Day" – der Tag, an dem der Masseneintrag des Winters schon aufgebraucht wurde – geschieht immer früher, teilweise schon Ende Juni und mit Fortdauer des Sommers werden jahrzehntealte Eisreserven aufgezehrt.
Und doch ein Funken Hoffnung
Expertinnen und Experten warnen: Schaffen wir es nicht, die Verpestung unserer Umgebung mit Treibhausgasen radikal einzudämmen, so wird von den Ostalpengletschern spätestens Ende des Jahrhunderts nichts mehr übrig sein. Die Erde ist auf einem starken Erwärmungskurs. 2022 stieg die Nullgradgrenze in den Alpen im Sommer auf mehr als 5000 Höhenmeter. Effektive und rasche Klimaschutzmaßnahmen könnten dennoch Auswirkungen auf noch bestehende Eismassen haben, betont ¬Nicholson. "Wenn wir es schaffen, den Temperaturanstieg auf weniger als zwei Grad Celsius zu begrenzen, können wir ein Drittel des heutigen Eisvolumens der Alpen retten – doch der Politik scheint es nicht zu gelingen, die richtigen Schritte zu setzen", sagt sie.
Wenn Nicholson über ihre Arbeit spricht, leuchten ihre wachen braunen Augen. Jetzt blickt sie etwas betrübt in die Kamera. Der Gletscherschwund stimme sie durchaus traurig, sagt sie. "Den Gletschern ist es allerdings egal, wenn sie schmelzen. Wir Menschen werden unter den Konsequenzen leiden." Gletscher sind nach den Ozeanen die größten Wasserspeicher der Erde. 70 Prozent des Süßwassers der Welt sind im nicht mehr ewigen Eis gespeichert. Ein Drittel des Anstiegs des Meeresspiegels ist auf die weltweite Gletscherschmelze zurückzuführen.
Das große Ganze und viele offene Fragen
Während solche hydrologischen Folgen des großen Schmelzens relativ gut beforscht sind, gibt es noch viele offene Fragen in Bezug auf die großen Zusammenhänge, sagt Nicholson. Etwa wie sich die zunehmende Entgletscherung auf das Mikroklima und die atmosphärische Zirkulation auswirkt. In diesem Sommer sei man hier einen signifikanten Schritt weitergekommen, zieht die Expertin Bilanz. Um viele unterschiedliche Forschende mit ins Boot zu holen, formte sie eine Untergruppe des internationalen TEAMx-Konsortiums. TEAMx widmet sich unter der Federführung des Instituts für Atmosphären- und Kryosphärenwissenschaften der Uni Innsbruck dem besseren Verständnis von atmosphärischen Prozessen in Gebirgsräumen. Die dazu notwendigen Beobachtungsexperimente seien eine logistische Herausforderung und selten, erklärt Nicholson.
Möglichst divers sollten die internationalen Forschungskooperationen deshalb sein, um in "HEFEX" (Hintereisferner Experiment) die größtmögliche Bandbreite an relevanten Geräten auf den Gletscher zu bringen. Neun Forschende von österreichischen, deutschen, schweizerischen, englischen und französischen Institutionen hätten sich schließlich im Lauf des vergangenen Monats an dem Gletscher eingefunden. Immer wieder stießen weitere Interessierte hinzu. "Das Projekt ist organisch gewachsen", berichtet Nicholson, nicht ohne Stolz.
Teure und seltene Instrumente, teils so schwer und unhandlich, dass sie von einem Helikopter an den Forschungsstandort geflogen werden mussten, habe man sich geteilt. Außerdem habe man so von unterschiedlichen Perspektiven profitiert. Finanziert wurde das Feldexperiment durch Einzelzuschüsse, die den teilnehmenden Wissenschaftern und Wissenschafterinnen vom European Research Council (ERC), dem EU-Horizon2020-Programm Interact, den Universitäten Innsbruck, Grenoble und Northumbria sowie der Humboldt-Universität Berlin gewährt wurden.
Die Bilder des STANDARD-Fotografen Florian Scheible, der Mitte August vor Ort war, zeigen eine Landschaft wie aus einem Science-Fiction-Film: Hochmoderne Gerätschaften ragen auf staksigen Stativen aus dem Eis. Antennen recken sich nach dem strahlend blauen Himmel. Solarpaneele fangen Sonnenstrahlen ein. Kabel schlängeln sich über den Boden. Dazwischen tummeln sich – ausgerüstet mit Bohrern, Schaufeln und Laptops – in bunte Outdoorkleidung gehüllte Wissenschafterinnen und Wissenschafter. Sie tragen Gletscherbrillen und Steigeisen an ihren Bergstiefeln.
Das Gletschermikroklima verstehen
Gletscherwinde und unterschiedliche Oberflächen böten ideale Testbedingungen für das Ausloten der wissenschaftlichen Fragestellungen, erklärt Nicholson, "wie in einem Labor". 18 Wetterstationen seien über eine Dauer von rund drei Wochen betrieben worden. So seien etwa Turbulenzen in der Luft, Schmelzraten sowie Stärke und Struktur der Gletscherwinde erfasst worden. Auch Drohnen und Wärmebildkameras waren dabei im Einsatz. Erst wer die Prozesse des Gletschermikroklimas versteht, der könne auch untersuchen, wie es sich verändern könnte, wenn der Gletscher weiter schrumpft, und wie dies wiederum einen weiteren Gletscherschwund fördern oder verlangsamen könnte. Das Team werde nun beginnen, die Daten zu verarbeiten und die wissenschaftlichen Fragestellungen zu beantworten, sagt Nicholson.
Ihre Mission als Glaziologin und Klimaforscherin sieht sie auch darin, über die Situation aufzuklären, in die sich die Menschen "selbst manövriert" hätten. Je besser man den Gletscher verstehe, desto besser könne man mit den sich ändernden Bedingungen umgehen – und möglicherweise auch dagegenwirken. (Maria Retter, 21.9.2023)