Louis-Ferdinand Céline
Noch und wieder ein Problemfall: Louis-Ferdinand Céline.
Ullstein Bild/adoc Foto

Es kommt nicht alle Tage vor, dass ein Schriftsteller mehr als 60 Jahre nach seinem Tod alle Verkaufsrekorde bricht. Mehr als 200.000 Exemplare wurden von Louis-Ferdinand Célines Roman Guerre (Krieg) seit seinem Erscheinen im Vorjahr in Frankreich verkauft; in manchen Wochen hängte das schmutzige kleine Stück von Céline (1894–1961) sogar Vernichten, den jüngsten Roman des Skandal- und Bestsellergaranten Michel Houellebecq, deutlich ab.

Bravourleistung

Ein gutes Jahr später erscheint Krieg nun als Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel, eine weitere Bravourleistung, wie sie Schmidt-Henkel schon 2021 mit Tod auf Raten, seiner vielbeachteten Übertragung von Célines Mort à Credit erbracht hatte. Keine leichte Aufgabe. Der Originalausgabe fügten die Herausgeber einen Anhang hinzu, um die französische Leserschaft nicht in der Flut von Argotausdrücken, aus denen Céline schöpft, untergehen zu lassen.

Krieg ist nur eine einzige Frucht einer sensationellen Editionsgeschichte: 2020 und 2021 wurde ruchbar, dass gute 6000 Seiten von unveröffentlichten Manuskripten Célines aus zunächst rätselhafter Quelle aufgetaucht waren. 1944 war der durch seine Nazinähe und seinen brutalen Antisemitismus schwer kompromittierte Doktor-Dichter gemeinsam mit Spitzenfiguren des Pétain-Regimes vor dem französischen Widerstand geflohen und hatte sich nach Deutschland und Dänemark abgesetzt.

Verworrene Causa

Im Zuge dieser Flucht ging das nun wieder aufgetauchte Textkonvolut scheinbar verloren, worüber sich Céline, der sich für das Opfer eines Diebstahls hielt, in seinem Roman Von einem Schloß zum anderen (1957) bitterlich beklagte. Tatsächlich war der literarische Schatz durch die Hände diverser Besitzer gegangen und schließlich bei dem Journalisten Pierre Thibaudat gelandet, der sich treu an eine Auflage hielt, die Öffentlichkeit erst nach dem Tod von Célines Witwe Lucille Destouches über die Existenz dieser Manuskripte zu unterrichten. Weil sich Madame Destouches als außerordentlich langlebig erwies und erst 2019 im Alter von 107 Jahren starb, blieb Thibaudat jahrzehntelang klammheimlich allein auf seinem Schatz sitzen. Details zu der verworrenen Causa sind einem vortrefflichen Einleitungstext zu entnehmen, den der Romanist Niklas Bender für Kriegbeigesteuert hat.

Die hochaktive Gruppe der Céline-Aficionados hat seither alle Hände voll zu tun. Nach Guerre wurden bereits drei neue (und noch nicht ins Deutsche übersetzte) Romane nachgeschoben und teils in die Pléiade-Ausgabe, die Publikationsstätte für Werke höchster literarischer Dignität, inkorporiert. Krieg ist eine Art Missing Link zur 1932 erschienenen Reise ans Ende der Nacht, die mit ihrem gehässigen Furor und der virtuosen, nichts und niemanden verschonenden Abrechnung mit Gott und der Welt Céline zu einem globalen Literaturstar gemacht hatte. "Der französische Genius hat in diesem Roman einen unvergleichlichen Ausdruck gefunden", schrieb ein beeindruckter Leo Trotzki im Atlantic Monthly. Und weiter: "Er wurde ersonnen und geschrieben als ein Panorama der Absurdität des menschlichen Daseins, seiner Grausamkeiten, seiner Zusammenstöße, seiner Lügen, ohne Ausweg und Hoffnungsschimmer."

Buchcover
Louis-Ferdinand Céline, "Krieg". Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. € 25,– / 192 Seiten. Rowohlt, Hamburg 2023
Verlag

Nihilistischer Übergangsplot

Krieg ist wenig geeignet, diesem Weltbild versöhnlichere Seiten hinzuzufügen. Die Grundfarbe des schmalen Romans ist Rabenschwarz, und rabenschwarz auch der grotesk-burleske Humor. Ort des Geschehens ist das fiktive französische Kaff Peurdu-sur-la-Lys, der Kleinstadt Hazebrouck nachempfunden, zur Zeit des Ersten Weltkriegs. Dort liegt Ferdinand Bardamu, Alter Ego Célines, zum Auskurieren seiner Kriegsverwundungen in einem Feldlazarett. Auch der Dichter wurde gleich in den ersten Kriegstagen heftig lädiert und litt fortan lebenslang an einer Teillähmung eines Arms und quälenden akustischen Halluzinationen: "Seit Dezember 14 habe immer in so gräßlichem Lärm geschlafen. Der Krieg hat mich im Kopf erwischt."

Bardamu gerät in die Obhut einer Krankenschwester, die ihn teils sexuell betreut ("wichst mich ordentlich und amtlich"), teils mutwillig mit Kathetern malträtiert, wird von seinen Eltern besucht ("Meine Mutter kotzte mich noch mehr an als sonst"), macht die Bekanntschaft des Zuhälters Cascade, der seine Freundin Angèle auf den Strich schickt und im Gegenzug von ihr denunziert, vors Kriegsgericht gebracht und in der Folge hingerichtet wird, was wiederum dem genesenen Ferdinand die Möglichkeit gibt, sich mit Angèle zu liieren und nach neuen Ufern zu streben. Ein nihilistischer Übergangsplot also, mit Céline-typischen Zynismen und einer verbalen Verve vorgetragen, wie sie nur ein originärer Hass gewährleistet. Aus Guignol’s Band I und II sowie dem neu aufgefundenen Londres weiß man, dass diese Ufer in Großbritannien liegen. Und welche Abenteuer Ferdinand auch immer dort erleben mag, sein Schöpfer Céline wird "politisch und moralisch ein Problemfall" (Bender) bleiben. Allerdings einer, der kein Jota seiner literarischen Explosivkraft eingebüßt hat. (Christoph Winder, 15.9.2023)