Oma sitzt mir gegenüber. Vor ihr ein frisch gefülltes Glas Weißwein. Sie lächelt. Seitdem sie von der Hausärztin einen Stimmungsaufheller in Form einer Pille verschrieben bekommen hat, lächelt sie, unabhängig von ihrem Alkoholkonsum, überhaupt recht viel. Am neuen Hörgerät fummelt sie alle paar Minuten herum. Das Ding macht ihr sichtlich zu schaffen. Als Opa noch am Leben war, sagt sie, habe er alles Technische für sie in die Hand genommen. Nun aber? Sie lächelt.

Ab einem gewissen Alter sei Widerstand zwecklos, meint Norbert Maria Krölls Oma.
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Tod am Meer

Gestern ist sie beim Wäscheaufhängen umgefallen. Die Wiese ist, nun ja, nicht unbedingt ein "englischer Rasen", also etwas zu uneben für Füße, die seit fünfundachtzig Jahren einen Körper von A nach B tragen. Wir sind noch beim Tisch gesessen. Oma aber hatte keinen großen Hunger, war schon früher aufgestanden und hatte sich den Wäschekorb geschnappt. Sie hatte erst drei Handtücher aufgehängt, als wir ein eigentümliches Geräusch hörten. Der Wäscheständer war umgefallen. Und mit ihr die Oma. Offenbar war sie judomäßig nach hinten abgerollt. Jedenfalls hatte sie weder gestöhnt noch laut aufgeschrien und auch sonst nichts gesagt, also niemanden um Hilfe gebeten. Ich hatte meine Kinder auf dem Schoß sitzen und konnte nicht sofort aufspringen. Da lag sie also, meine Oma, und wippte stumm vor und zurück wie ein Baby. Sie versuchte sich aufzurichten, hatte aber nicht die geringste Chance, ihren Körper ohne Unterstützung wieder in die Senkrechte zu befördern.

Wie gelähmt beobachtete ich ihre ungewöhnlichen Bewegungen, bis ich mich endlich von der Starre lossagte und mit den Kindern zu ihr eilte. Vor einigen Jahren war ihr etwas Ähnliches passiert. Im seichten Gewässer eines Sees war sie nach vorne umgekippt. In ihrer Panik hatte sie sogleich versucht draufloszuschwimmen, denn das konnte sie damals nach wie vor. Doch im knietiefen Wasser waren Schwimmbewegungen, wie sie selbst bemerkt haben musste, kontraproduktiv. Dass sie sich einfach hätte auf ihren Knien aufrichten müssen, war ihr nicht in den Sinn gekommen. So strampelte sie mit ihren Beinen und warf mit ihren Händen wild um sich, bis sie von meiner Mutter, die endlich bei ihr war, hochgezogen wurde. Um ein Haar wäre sie auf dieselbe Art gestorben wie ihr Mann, der ein paar Jahre zuvor durch einen Schlaganfall in der knietiefen Adria ertrunken war. Ein Bergmann, der sein ganzes Leben unter der Erde verbracht hat, um mit den "Pensionisten" ans Meer zu fahren … und dort zu sterben. Aber das ist, wie man so schön sagt, eine andere Geschichte.

Worauf warten?

Ach ja, seufzt Oma, um dann mit fester Stimme zu behaupten: "Altwerden ist scheiße!" Sie lacht, nimmt einen Schluck von ihrem Wein, stellt das Glas mit zittrigen Händen auf der Tischfläche ab. Sie könne immer schlechter hören. Sie könne immer schlechter sehen. Sie falle bei jeder kleinsten Unebenheit um. Es sei furchtbar. Das heutige Wetter übrigens auch, fügt sie hinzu.

Aber das sei doch, ihrer Ansicht nach, immer furchtbar, merke ich an. Da lächelt sie wieder und winkt mich zu sich. Im Zeitlupentempo krempelt sie ihr rechtes Hosenbein hoch, zeigt mir ihr blaues Knie. Das sei von einem Sturz in ihrer Wohnung, erzählt sie. Und das andere Knie tue ihr ohnehin schon seit längerem weh. Es wäre wieder Zeit für ein neues Gelenk. Aber die Ärzte wollen noch zuwarten. Worauf denn warten?, fragt sie und schaut mich, als wäre ich ihr Arzt, anklagend an. Als ich ihr keine Antwort gebe, merkt sie an, dass ich eben noch jung sei. Ich muss grinsen. Jung? Das disqualifiziere mich dann wohl, um übers Altern nachzudenken? Denn vierzig sei das neue dreißig, nicht wahr? Sie zuckt mit den Achseln. Was verstehe sie schon von der Welt! Warum, frage ich Oma, warum wollen heutzutage alle Menschen überhaupt so alt werden? Sie zuckt abermals mit den Achseln, schaut zum Gipfel ihres Hausbergs, wirkt plötzlich abwesend.

Ich sage ihr, dass mir das Altern zeitweise wie ein grauslicher Wettbewerb vorkomme. Hauptsache die Menschen würden alt genug. Gehe es nicht vielmehr um die Intensität des Erlebten? Es stimme schon, rede ich weiter, das Leben sei ja zuweilen sehr schön. Aber auch verdammt anstrengend. Und das alles ändere sich mit den Kindern minütlich. Wozu tue man sich das eigentlich so lange an? Ich sei zum Beispiel bald zweiundvierzig Jahre alt und hätte bereits so unglaublich viel erlebt, dass es mir manchmal völlig absurd erscheine, nochmals so viel erleben zu dürfen, ja, es zu sollen! Oma schaut mich an, lächelt, fragt mich, ob ich etwas gesagt hätte.

Früher

"Diese rechten Deppen", meint sie auf einmal und deutet in Richtung Titelseite der aufgeschlagenen Tageszeitung. Die rechten Deppen, die denken, früher sei alles besser gewesen! Mein Opa, sagt sie, habe kurz nach Kriegsende, also bevor er alt genug war, um im Bergwerk zu arbeiten, extrem gehungert. Sein Vater, mein Uropa, sei ja tatsächlich verhungert! Nun ja, er sei ein Hans-Guck-in-die-Luft gewesen, fügt sie hinzu, ein Musiker. Ich bekomme Gänsehaut und denke an mein spärliches Einkommen und die nicht zu übersehbaren Hans-Guck-in-die-Luft-Parallelen.

Inzwischen war einer meiner Söhne vorbeigekommen, um einen Schluck Wasser zu trinken. Aber Kinder, meint der Kleine, dem bei einer Konversation für gewöhnlich kein Wort entgeht, Kinder sterben nicht, denn die seien noch nicht groß genug zum Sterben. Das Gesagte klingt eher nach einer Aussage als nach einer Frage. Ich überlege, ob ich ihm trotzdem die Wahrheit sagen soll. Zu meinem Glück ruft ihn sein Bruder, der hinter dem Haus in der Sandkiste nach Schätzen wühlt. Und schon saust er davon. Und nimmt seine unersättliche Lebensenergie mit sich.

Das Wort "Sozialstaat"

Jedenfalls habe mein Opa als Kind gerade noch so überlebt, fährt Oma fort. Seine Mutter habe ihn damals ins Gailtal geschickt, vielleicht finde er dort bei einem Bauern noch etwas zu essen. Sie habe nichts mehr. Opa habe auf dem Weg dorthin dann so viele verfaulte Äpfel zu sich genommen, dass er es mit schwerem Durchfall gerade eben wieder nach Hause geschafft habe. Es sei eine schreckliche Zeit gewesen. Das wissen die rechten Deppen nicht. Ich nicke. Die würden das nicht wissen, weil sie Deppen seien, fügt sie hinzu, als gäbe es weiter nichts mehr anzumerken.

Erst mit Kreisky, spricht sie mit erhobenem Zeigefinger und beinah feierlicher Stimme, erst mit ihm sei es bergauf gegangen. Das würden wir jungen Menschen heute gar nicht mehr nachvollziehen können, sagt sie, trinkt einen Schluck. Und noch einen. Dass man auf einmal nicht mehr nur lebte, um zu arbeiten, sondern arbeitete, um zu leben, ja, gut zu leben. Er hat uns ernst genommen. Wir haben uns wertgeschätzt, nicht im Stich gelassen gefühlt. Ich frage sie, ob sie denke, dass es jemals einen zweiten Kreisky geben werde. Viel wichtiger wäre es, dass es keinen zweiten Haider mehr gebe, kommentiert Oma trocken. Aber da habe sie so ihre Zweifel.

"Er hat uns ernst genommen. Wir haben uns wertgeschätzt, nicht im Stich gelassen gefühlt", sagt die Großmutter über Bruno Kreisky.
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Natürliche Selektion durch Tiger

Mein Körper sei auch nicht mehr der jüngste, merke ich an. Oma beäugt mich mit ihrem skeptischen Blick. Ich räuspere mich und fahre fort: Ich wisse, was es bedeute, Schmerzen zu haben, krank zu sein. Ich könne mich nicht mehr so frei bewegen wie früher, könne nicht mehr so schwer heben, könne nicht mehr so gut schlafen. Oma winkt ab. Ich habe doch keine Ahnung, sagt sie und fügt hinzu, dass ich glücklich sein solle, gesunde Kinder zu haben. Ob Gesundheit ihrer Ansicht nach mit Glück gleichzusetzen sei, frage ich. Nun, kommentiert Oma und verzieht den Mund, ihr Glück sei ihr persönlich zwar wichtig, der Evolution hingegen ziemlich egal. Die Jäger und Sammler vor Hunderttausenden von Jahren lebten gesünder und waren mit hoher Wahrscheinlichkeit glücklicher, als sie es je sein könne. Wenn sie nichts mehr hörten, wurden sie vom Tiger gefressen. Wenn sie nichts mehr sahen, von der Schlange gebissen. Konnten sie sich nicht mehr bewegen, so fanden sie keine Nahrung mehr. Kurz gesagt: Es war für sie aus, bevor sie das Wort "Sozialstaat" hätten in den Mund nehmen können.

Oma nimmt, während sie über ihre eigene Aussage schmunzelt, den letzten Schluck Weißwein und schaut mir plötzlich direkt in die Augen: Glück sei zu sterben, bevor der Partner stirbt. Glück sei zu sterben, bevor die rechten Deppen die Demokratie aushebeln. Und Glück sei vor allem auch ein volles Glas, sagt sie und reicht mir ihr leeres.

Nichts zu sagen haben

Ich stehe auf, gehe zum Brunnen nebenan und fülle das Glas mit frischem, kaltem Bergwasser. Das Glas sei voll, sage ich ihr und stelle es etwas lauter als beabsichtigt auf den Tisch. Oma sieht mich an. Sei Glück, frage ich, seiner Sucht nachzugeben oder ihr zu widerstehen? Ab einem gewissen Alter, antwortet sie nach einigen Sekunden, sei Widerstand zwecklos, mehr noch, es sei egal. Und das sei, fügt sie hinzu, möglicherweise sogar das Schlimmste am Altern. Nicht mehr aufbegehren zu können. Nicht mehr ankämpfen zu wollen. Sich kaum mehr oder nicht mehr ändern zu können. Sie habe nichts mehr zu sagen.

Halt, werfe ich ein, als Opa noch lebte, habe sie erst recht nichts zu sagen gehabt. Ich lehne mich zurück, mache mich kleiner, da ich mir nicht sicher bin, ob ich mit meiner Aussage zu weit gegangen bin. Wohl wahr, sagt Oma schließlich. Wohl wahr. Sie hebt das Glas, will daraus trinken, stellt es wieder hin, als wäre sein Inhalt vergiftet. Und wer, fragt sie nach einer Weile, habe in meiner Familie das Sagen? Niemand, sage ich. Oh doch, meint Oma: die Kinder! Ich will ihr etwas entgegnen, ziehe es jedoch vor zu schweigen.

Das Wetter sei heute aber wieder furchtbar, sagt Oma. Und zu trinken gebe es auch nichts. Sie gehe nach Hause, solange sie noch nach Hause gehen könne. Ich frage mich, ob ich ihr doch hätte einen Wein einschenken sollen. Sie erhebt sich. Sieht mich an. Greift zum Glas Wasser und trinkt es in einem Zug leer. Dann bückt sie ihren Oberkörper nach vorne, langt über den Tisch, berührt mich mit ihrer weichen Handinnenfläche an der Wange und sagt: Früher sei es nicht besser gewesen. Früher sei es schlechter gewesen. Sie wisse das. Weil sie dabei gewesen sei. Und morgen werde es nicht schlechter. Morgen werde es besser. Und dass die Leute es sich nicht mehr werden leisten können, tagein, tagaus ihre Pools auf dreißig Grad zu beheizen, habe vielleicht sogar etwas Gutes. Ich werde es dann schon sehen. Denn ich werde dabei gewesen sein. (Norbert Maria Kröll, 15.9.2023)